Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
natürlich will man immer auch irgendwo ein guter Mensch sein, zumindest kein ganz schlechter. Aber dieses Konzept des “Moralischen Altruismus”, das schon seit einigen Jahren von mindestens zwei prominenten amerikanischen Philosophen propagiert wird, das kann einen schon ganz schön in Gewissensnöte bringen… Doch um es gleich vorwegzunehmen: Mich überzeugt das alles überhaupt nicht. Es ist nämlich so: Laut diesem Ansatz verhält sich ein Mensch vor allem dann moralisch, wenn er mit seinem Verhalten möglichst viele seiner Mitmenschen unterstützt und fördert. Insofern erweist sich der “Moralische Altruismus” als eine Spielart des in der angelsächsischen Philosophie traditionell sehr weit verbreiteten moralischen Utilitarismus, wonach es immer auf das größte Glück der größten Zahl ankomme, wohingegen es etwa im Deutschen Idealismus (mit Kant und Kollegen) auf die Einhaltung von moralischen Prinzipien hinausläuft.
Das Lehrbuchbeispiel des Moralischen Altruismus geht so: Wenn man als Schriftsteller mit seinen Büchern nur Kleinstauflagen hat und bestenfalls zweihundert Leser erreichen kann, dann sollte man damit aufhören, denn mit der gleichen Energie, die man für das Verfassen von Texten aufwendet, die kaum jemand lesen mag, könnte man z.B. als Lehrer oder Dozent oder Sozialarbeiter oder Krankenpfleger tätig sein und so weitaus mehr Menschen etwas Gutes tun. Nun, da ist schon was dran. So funktioniert ja auch die menschliche Gesellschaft: Dass man sein Geld mit Tätigkeiten verdient, die anderen einen Nutzen bringen, und dabei möglichst auch der ganzen Gesellschaft nützlich ist. Das weitere regelt dann die unsichtbare Hand des Marktes…
Da hat man sich also moralisch immer auf der sicheren Seite gefühlt, weil man ja schließlich kein Auto besitzt, nur ganz selten im Flugzeug fliegt, mit Leidenschaft Energie spart und sich gesund ernährt, viel Sport treibt und so das Gesundheitssystem entlasten hilft und auch ansonsten seinen Mitmenschen, wo man konnte, immer behilflich gewesen ist. Aber wenn man ansonsten hauptsächlich den eigenen Hobbys und Interessen nachgeht, den ganzen Tag Zeitung liest, ohne mit dem eigenen Wissen dann etwas anderes anzufangen als gelegentlich Texte für vielleicht eine Hand voll Stammleser zu verfassen, dann verhält man sich vom Standpunkt des “Moralischen Altruismus” betrachtet ziemlich unmoralisch, um nicht zu sagen abgrundtief böse. Denn man könnte ja stattdessen z.B. einen Job als Quereinsteiger im Schuldienst annehmen und seine Kraft darauf verwenden, der abgehängten Generation Corona bildungsmäßig auf die Sprünge zu helfen. Gerade jetzt, wo so dringend Lehrer gesucht werden. Das will ich aber nicht, weil es mir zu anstrengend wäre.
Gibt es denn vielleicht wenigstens eine Möglichkeit, mich von meinem schlechten Gewissen zu befreien? Ja, ich denke schon. Der “Moralische Altruismus”, so schlüssig und einleuchtend er auf den ersten Blick erscheint, ist nämlich – bei genauerer Betrachtung – äußerst fragwürdig. Denn das größte Glück für die größte Zahl generieren zweifellos jene Influencer, die mit ihrem gequirlten Blödsinn Millionen und Abermillionen Follower in den sozialen Netzwerken erreichen. Wohingegen – um mal ein besonders hochtrabendes Beispiel zu nennen – ein Vincent van Gogh zu seinen Lebzeiten nur mit größter Mühe ein paar seiner Bilder verkaufen konnte. Der hätte, ginge es nach dem “Moralischen Altruismus”, also schon frühzeitig aufhören müssen zu malen und stattdessen lieber in der Ernte aushelfen sollen auf den Feldern, die er da auf die Leinwand gezaubert hat.
Oder, noch viel drastischer, die folgende wahre Geschichte: Ein Student bei einem dieser amerikanischen Philosophie-Professoren, die den “Moralischen Altruismus” predigen, wollte sich trotz seiner großen mathematischen Begabung aus Überzeugung einen Job im sozialen Sektor suchen. Davon hat ihm sein Professor aber abgeraten. Er solle sich mit seinen Fähigkeiten lieber als Investmentbanker aufs Geldverdienen konzentrieren und anschließend die so erwirtschafteten Erträge für einen guten Zweck spenden. So könne er doch weitaus mehr Gutes bewirken. Passiert ist dann aber Folgendes: Der junge Mann gründete eine Krypto-Börse, mit der er schon nach kurzer Zeit unfassbar reich wurde. Nur wurde er bald darauf von der Polizei verhaftet und sitzt nun eine langjährige Haftstrafe wegen tausendfachen schweren Betruges ab…
Ich denke mir aber auch: Will ich das überhaupt? Eine große Zahl von Menschen glücklich machen, die ich gar nicht kenne und vielleicht auch gar nicht unbedingt persönlich kennenlernen will? Ist es da nicht zumindest ebenso gut, nur ein paar wenige Leute zu erreichen, die mit einem selbst etwas anfangen können und umgekehrt? Vor allem, wenn ich mich dabei besser fühle…? Bei meiner Frau ist es ja ganz ähnlich. Wenn sie täglich stundenlang Klavier spielt, dann tut sie das vor allem für sich selbst und nur gelegentlich mal für den einen oder anderen Zuhörer. Sicherlich könnte sie in dieser Zeit mit dieser aufgewendeten Energie auch noch mehr Volkshochschulkurse geben oder sich ehrenamtlich in einer Flüchtlingsunterkunft betätigen. Das will sie aber nicht. Als ich sie dazu befragte, meinte sie: “Dafür haben wir ja kein Auto und spenden für die Buddhistische Gemeinde.“ Und der Buddhismus sagt dazu interessanterweise: Jeder Mensch sollte sich zuerst um sich selbst kümmern. Und nur, wenn danach noch Energie übrig ist, dann auch um andere. Was zumindest ein bedenkenswerter Ansatz ist…
Dein Johannes