Zum Tod von Alfred Grosser (1925-2004)
Thomas Claer
Nun hat er also die 100 doch nicht mehr ganz geschafft. In den letzten Jahren war es zwar ruhiger um ihn geworden, doch blieb der umtriebige Politologe und Publizist Alfred Grosser bis zuletzt ein engagierter und streitbarer Geist im Dienste der Aussöhnung und Toleranz. Geboren in Deutschland und schon als Jugendlicher während der Nazi-Herrschaft nach Frankreich emigriert, legte er sich von dort aus dann unermüdlich für die deutsch-französische Verständigung ins Zeug und prägte als Hochschullehrer und Person des öffentlichen Lebens mehrere Generationen seiner Studenten, Leser und Zuhörer. In seinen späten Jahren hat er einmal einen seiner Kniffe verraten: War er irgendwo zu einem Vortrag eingeladen, was sehr häufig vorkam, dann sagte er dort immer auch etwas, was sein jeweiliges Publikum gar nicht gerne hören wollte. So erinnerte er die christlichen Kirchen an ihre historischen Verbrechen und die deutschen Gewerkschaften an ihre Kapitulation vor Hitler. Damals, 1991, wusste ich das noch nicht, als ich mit 19 Jahren das Glück hatte, bei einem seiner Auftritte dabei zu sein, was ich vor vier Jahren wie folgt geschildert habe:
„Doch noch in der aufgeheizten Phase während des Golfkriegs bekam unsere Schule Besuch von einem berühmten Intellektuellen. Der deutsch-französische Politologe Alfred Grosser hielt bei uns einen Vortrag – durch Vermittlung, wie es hieß, des stellvertretenden Rektors der Schule, der bekanntermaßen ein CDU-Mann war. Damals konnte man noch nicht einfach jemanden mal eben googeln. Daher steckte ich den armen Alfred Grosser gedanklich sogleich in die für mich unliebsame Schublade „konservativ“, zumal er in seinem Vortrag auch gleich entsprechend loslegte: Dass er mit erheblicher Verspätung erschienen sei, das liege an diesen sogenannten Friedens-Demonstrationen, die mal wieder den ganzen Verkehr lahmgelegt hätten. Dabei sei der Name „Friedensbewegung“ doch ziemlich anmaßend, denn er suggeriere schließlich, dass alle anderen nicht für den Frieden wären, was aber überhaupt nicht der Fall sei. Und zur innenpolitischen Kontroverse anlässlich des Golfkriegs, den er ausdrücklich unterstützte, meinte er: Deutschland hätte sich auch an dieser internationalen Militäraktion mit UN-Mandat beteiligen müssen. Das wiedervereinigte Deutschland müsse lernen, auch selbst Verantwortung in der Welt zu übernehmen. Es müsse sich verabschieden vom Traum, eine Art Schweiz sein zu wollen und sich immer aus allem rauszuhalten. Dafür sei das Land zu groß und zu bedeutsam. Er habe gerade lange darüber mit seinen Freunden bei den hessischen Grünen diskutiert. (An dieser Stelle fragte ich mich irritiert, wie jemand mit solchen Ansichten Freunde bei den Grünen haben konnte. Ich hielt diesen Hinweis daher für wenig glaubhaft und vermutete einen Trick, um sich bei uns, den linksalternativen Bremer Schülern, irgendwie „einzuschleimen“.) Mehrere Wortmeldungen von Schülern und Lehrern führten daraufhin die Argumente der Friedensbewegung ins Feld, doch Prof. Grosser hielt argumentativ gekonnt dagegen, indem er sich auf die westliche Wertegemeinschaft berief und darauf, dass Deutschland sich, gerade aufgrund seiner Vergangenheit, nie wieder international isolieren dürfe. Es war wirklich schwer, noch etwas dagegen vorzubringen, was mich auch irgendwie wütend machte. Darüber hinaus bemerkte Alfred Grosser, dass er den letzten Bundestagswahlkampf vor der Wiedervereinigung „sehr traurig“ gefunden habe, denn die konservative Bundesregierung habe den Eindruck erweckt, die deutsche Einheit sei ohne große Anstrengung zu erringen und die Opposition habe immer nur vorgerechnet, wie viel alles kosten würde. Kein deutscher Politiker habe den Menschen gesagt, dass zwar große Herausforderungen auf sie zukämen, aber mit großer gemeinsamer Kraftanstrengung alle Schwierigkeiten zu überwinden seien… Dabei entging mir nicht, dass Prof. Grosser in seinen Ausführungen die SPD als „Sozialisten“ bezeichnet hatte. Ha, dachte ich, so will er sie diskreditieren, indem er sie in die linksradikale Ecke stellt. Keinen Moment lang dachte ich daran, dass in Frankreich, wo Alfred Grosser als Hochschullehrer tätig war, die Sozialdemokraten schlicht unter der Bezeichnung „Sozialisten“ firmieren…
Bald darauf wurde ich von der Redaktion der Schülerzeitung gefragt, ob ich nicht einen Artikel über den Vortrag von Prof. Grosser an unserer Schule schreiben könnte. Natürlich ließ ich mich nicht lange bitten, denn dies war gewissermaßen meine erste journalistische Arbeit, auf die ich rückblickend aber keineswegs stolz bin. Denn ich ging in diesem Text, der die Überschrift „Macht der Sprache“ trug, hart mit Alfred Grosser ins Gericht und kritisierte ihn dafür, dass er mit „rhetorischen Taschenspielertricks“ am Ende scheinbar immer Recht behielt, ohne wirklich auf das berechtigte Ansinnen der Friedensbewegung einzugehen. Es dauerte aber nicht lange, ich glaube es war schon nach wenigen Monaten, da bereute ich zutiefst, was ich da geschrieben hatte. Denn mittlerweile war ich ein regelrechter Fan von Alfred Grosser geworden, den ich endlich als unabhängige liberale Stimme näher kennen- und schätzen gelernt hatte. Auf dem Flohmarkt an der Bremer Bürgerweide hatte ich zum Preis von 50 Pfennigen ein schon ziemlich zerknicktes und ramponiertes Exemplar seines Buches „Versuchte Beeinflussung. Reden und Aufsätze“ aus den frühen Achtzigern erstanden und mit wachsender Begeisterung gelesen. Auch verfolgte ich nun regelmäßig die Fernseh-Gesprächsrunde „Baden-Badener Disput“, ausgestrahlt zu später Stunde auf 3Sat, in der Alfred Grosser ein ebenso ständiger Gast war wie der Philosoph Peter Sloterdijk, dessen „Kritik der zynischen Vernunft“ ich auch schon eifrig studiert hatte…
Und so kann ich mich nun, nach dreißig Jahren, endlich bei Alfred Grosser, der gottlob noch lebt, aber mittlerweile auch schon 95 Jahre alt ist, für meinen damaligen unqualifizierten Text in der Schülerzeitung öffentlich entschuldigen.“
Am vergangenen Mittwoch ist der große europäische Intellektuelle und deutsch-französische Brückenbauer nun mutmaßlich in die ewigen Jagdgründe des aufgeklärten Denkens eingetreten.