Gilbert Gornig legt sein voluminöses Großes Lehrbuch zum Völkerrecht vor
Matthias Wiemers
„Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“, so lautet der wohl zweibekannteste Satz aus Hegels Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie (und wohl letztlich auch des gesamten Spätwerks von G.W.F. Hegel).
Nach Karl Doehring, der 1999 im Alter von 80 Jahren sein „Völkerrecht“ als Großes Lehrbuch in einem anderen Verlag vorlegte, hat der pensionierte Marburger Völkerrechtler Gilbert Gornig hierfür nur bis zu seinem 73. Lebensjahr gebaucht. Der im letzten Herbst erschienene Band war seit längerem angekündigt gewesen, und Gornig bedauert im Vorwort des Bandes, dass es ihm „erst einige Jahre nach“ seiner Pensionierung möglich gewesen sei, das Lehrbuch abzuschließen. Auch lernen wir hier, dass es ursprünglich als Neuauflage des dreibändigen Werkes von Friedrich Berber (geb. 1898 in Marburg!) gedacht gewesen sei. Jenes Werk, das zwischen 1960 und 1977 in zwei Auflagen erschien war, war außerhalb der üblichen Lehrbuchreihen erschienen, und nunmehr hat Gornig den noch neuen Platz in der bekannten Reihe „Großes Lehrbuch“. Dass es etwas länger gedauert hat, ist verständlich, da der Band über 1900 Seiten umfasst. Es erhebt den Anspruch, „das gesamte Völkerrecht für die deutschsprachigen Länder umfassend, aber verständlich darzustellen“ (Vorwort). Tatsächlich werden aber auch zahlreiche weitere Staaten als Referenzgebiete herangezogen, vor allem bei der Darstellung des innerstaatlichen Vollzugs von Völkerrechts (§ 41).
Im Text der Rückseite wird das Werk als Nachschlagewerk charakterisiert, was sicherlich treffend ist. Hierzu passt, dass es nicht nur ein Sachverzeichnis, sondern auch ein davon abgetrenntes Personenverzeichnis enthält, das die dort verzeichneten Personen zumeist zutreffend in aller Kürze einordnet. Hierzu hätte man sich allerdings gewünscht, dass die Namen im Text kursiv gesetzt worden wären. Dem Charakter als Nachschlagewerk steht ein wenig entgegen, dass neben politischen Hintergründen auch geschichtlichen und zeitgeschichtliche Ereignisse „einbezogen und verwertet“ worden sein sollen. Dies ist zwar maßvoll geschehen, aber dennoch liest man öfter schlicht von „Putin“ – als wenn dieser den Lesern in 30 Jahren noch ohne weiteres geläufig wäre. Der „völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine 2022“ wird ausweislich des hinteren Text auf der Rückseite „vertieft behandelt“. Hier kann man nur sagen: Das passt nicht! Niemand erwirbt ein „Nachschlagewerk“, das derart aktualistisch unterwegs ist (und es ist im Übrigen schon überflüssig, wenn Politiker ständig in öffentlichen Reden auf die Völkerrechtswidrigkeit des Ukraine-Kriegs hinweisen. Niemand hat Zweifel an dieser Wertung!).
An dem Werk haben zahlreiche Mitarbeiter mitgewirkt, was der Qualität nicht immer guttat. So wird die kleine Schrift, die Carl Schmitt vom (laut Personenverzeichnis) Staatsrechtler auch zum Völkerrechtler gemacht hat, letztlich sinnentstellend zitiert (S. 207 m. Fn. 30).
Kommen wir aber endlich zum Positiven des Werks. Gornig hat seine Darstellung gelegentlich nach geschichtlichen Epochen gegliedert, was im Völkerrecht kaum anders denkbar erscheint (vgl. 2. Kapitel und § 143, 154), aber die historischen und territorialen Bezüge beginnen bereits auf den ersten Seiten des Werkes, was von Beginn an verdeutlicht, dass wir die Frucht eines langen Gelehrtenlebens vor uns haben. Der Band gliedert sich in insgesamt 28 Kapitel, die jeweils aus mehreren Unterkapiteln (§§) bestehen. Dabei hat er es unterlasen, der Gliederung von Berbers Werk zu folgen, sondern hat ein vollständig neu aufgebautes Werk geschaffen, das von Begriff, Wesen und Geltungsgrund des Völkerrechts (Kapitel 1) über die Völkerrechtsgeschichte (2), die Subjekte des Völkerrechts (3), die Rechtsquellen des Völkerrechts (4) und die völkerrechtlichen Verträge (5) und einseitige Rechtsgeschäfte (6.) bis hin zum Verhältnis des Völkerrechts zum Recht der einzelnen Staaten geht (7). Das achte Kapitel präsentiert die Völkerrechtsprinzipien und das neunte zeigt Entstehung, Untergang und Umwandlung von Völkerrechtssubjekten auf. Kapitel 10 präsentiert das Recht der Staatensukzession und im elften lernen wir die staatlichen Organe des internationalen Verkehrs kennen. Mit dem zwölften Kapitel über den Raum im Völkerrecht endet der Allgemeine Teil des Bandes. Der Besondere Teil beginnt vielleicht zunächst überraschend mit der Darstellung der Binnengewässer (13), gefolgt vom internationalen Seerecht (14), Luftrecht (15), Weltraumrecht (16) und einer Darstellung der Staatsangehörigkeit im Völkerrecht (17). Volksgruppenrechte (18) und Menschenrechte (19), das völkerrechtliche Fremdenrecht (20), das „Recht der internationalen Organisationen“ (21), das internationale Wirtschaftsrecht (22), „Umweltrecht und Klimarecht (23), Kulturgüterschutz (24) zeigen die zahlreichen Themen, die Gegenstand völkerrechtlicher Vereinbarungen werden können. Die letzten Kapitel zeigen die Themen, die Berber hauptsächlich in seinem Band zum Kriegsvölkerrecht behandelt hatte: „Bewaffneter Konflikt“ (25), „Völkerrechtliche Haftung“ (26), „Völkerrechtliches Strafrecht“ (27) und „Durchsetzung des Völkerrechts“ (28).
Schauen wir abschließend nochmal unter der Prämisse in das Buch, das Völkerrecht in den deutschsprachigen Ländern darzustellen, so denken wir hier vor allem an Österreich und die Schweiz. Beide Staaten spielen allerdings im Buch keinesfalls eine besondere Rolle. Der Vorteil des Bandes muss daher in der Darstellung aus einer Hand liegen, das ihn von anderen auch größeren Werten der Gegenwart unterscheidet. Darin besteht die beachtliche Leistung von Gilbert Gornig.
Gilbert Gornig
Völkerrecht (Lehrbuch)
Verlag C.H. Beck, 1. Auflage 2023
1936 Seiten; 159,00 Euro
ISBN: 978-3-406-79873-3