Unter dem Pseudonym Latife Arab beschreibt eine junge Berlinerin ihr Martyrium, das sie im Namen einer Religion durchlitten hat
Benedikt Vallendar
Auch religionstolerante Menschen könnten nach der Lektüre des 2024 im Münchner Heyne-Verlag erschienenen Buches „Ein Leben zählt nichts – als Frau im arabischen Clan“ von Latife Arab ins Zweifeln geraten. Und zum Schluss kommen, dass der Islam keine Religion, sondern wohl eher eine faschistoide Weltanschauung ist. Fast schon eine Ideologie im Sinne Hitlers, deren Koordinaten aus Gewalt, Ausgrenzung und Hass bestehen; die das Religiöse nur als Kulisse benutzen, und deren Propagandawände aus Diktaturen rund um den Globus hinlänglich bekannt sind. Auf 256 Seiten beschreibt die 1980 in Ostanatolien geborene und mit fünf Jahren nach Deutschland gekommene Autorin unter Pseudonym ihren Leidensweg wie eine Via dolorosa, in einer Mischung aus Thriller, Horrorroman und nimmer enden wollendem Alptraum. Sie hat zu gehorchen und Kopftuch zu tragen, weil Allahs es will. So wird es ihr von klein an eingetrichtert. Prügel, Schläge ins Gesicht bis hin zu zwei Mordanschlägen, die sie nur durch Zufall überlebt, zeichnen Arabs Lebensweg, bei dem Behörden und Beratungsstellen nicht immer die Hilfe gewährten, die sie gebraucht hätte. Arabs Odyssee findet statt auf dem Hintergrund einer arrangierten Ehe, in der sie sich von ihrem ungeliebten Ehemann „besteigen“ lassen muss wie eine Ziege, nur um Kinder zu bekommen. Die Szenarien bilden das Drehbuch eines Dramas, aus dem sich Latife Arab erst nach mehreren Anläufen befreien kann und heute als glückliche Ehefrau mit ihrem deutschen Mann Frederik, einem Architekten und Stadtplaner leben darf; zurückgezogen auf dem Land, irgendwo in Brandenburg, mit Kindern, Hund und Hamster
Eine Lanze für die „anderen“
Doch so sehr das Schicksal Latife Arabs zum Nachdenken und Mitfühlen anregt, so sehr hätte es dem Buch gutgetan, auch der anderen Seite muslimischer Communities, deren Herzlichkeit und Gastfreundschaft und ja, auch dem Familiensinn in türkischen Gemeinschaften einen, wenn auch nur kleinen Platz einzuräumen. Viele deutsche Türkeiurlauber erzählen regelmäßig von der liebenswerten Art der einfachen Menschen auf der Straße, die sie im Gastland erleben; und auch der Schreiber dieser Zeilen, katholisch sozialisiert und einst Student an der FU Berlin, erinnert sich bis heute, wie Ende der neunziger Jahre, jeden Abend pünktlich um 19 Uhr ein kleines verschleiertes Mädchen an die Tür seiner WG klopfte Und schüchtern-wortlos von ihrer Mutter geschickt, einen großen dampfenden Teller mit Reis, Gemüse, Hammelfleisch und süßen Nüssen überreichte, unserem Abendessen, wovon die damaligen Mitbewohner bis heute berichten.
Um hier keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen: Latife Arabs Anklage ist gerechtfertigt und notwendig, und ja es gibt sie, die innerfamiliäre, sich selbst ausgrenzende Gewalt in muslimischen Familien, die Integrationsbemühungen jedweder Art ins Leeren laufen lassen.
Und doch, und auch das muss hier gesagt werden, gibt es eben auch die andere Seite des Islam, das liberale, tolerante und fast schon westlich orientierte Bürgertum von Ankara, Izmir und Istanbul, das seine Kinder zum Studium nach Kopenhagen und Zürich schickt und mit größeren und kleineren Firmen Arbeitsplätze schafft, auch bei uns; und ganz zu schweigen die tanzende und minirocktragende Muslimjugend Albaniens und Bosnien-Herzegowinas, deren an Allah glaubende Eltern sie meist so gewähren lassen, wie es sich Latife Arab wohl stets gewünscht hätte.
Latife Arab: Ein Leben zählt nichts – als Frau im arabischen Clan. Eine Insiderin erzählt. Buch (gebundene Ausgabe), 22,00 €, inkl. gesetzl. MwSt., Wilhelm Heyne Verlag München 2024, ISBN: 978-3453218741