Rechtzeitig zum einhundertjährigen Jubiläum legt Philipp Lenhard seine Studie zur Geschichte des Instituts für Sozialforschung vor
Matthias Wiemers
Wer sich gelegentlich in Frankfurt aufhält, kennt vielleicht das Café Laumer auf der Bockenheimer Landstraße, die vom Westend in Richtung Bockenheim führt, das – übrigens ursprünglich mal zu Kurhessen (Kassel) gehörig – lange Zeit praktisch die gesamte Frankfurter Universität beheimatete.
Über diese im dritten Monat des Ersten Weltkriegs gegründete Stiftungsuniversität erfahren wir auch einiges in der zum hundertjährigen Bestehen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung erschienen Studie von Philipp Lenhard, einem gebürtigen Bielefelder, der eine DAAD-Professur in Berkeley für „Late Modern Europe“ innehat.
An der Viktoriaallee (heute: Senckenberganlage), auf der Schwelle zwischen Westend und Bockenheim, ließen Vater Hermann und Sohn Felix Weil 1924 das Institutsgebäude errichten, das sie dem im Vorjahr gegründeten „Institut für Sozialforschung“ (IfS) mit Hilfe einer Trägergesellschaft zur Verfügung stellten. Dieses Institut wurde bereits frühzeitig aber eher spöttisch als „Café Marx“ bezeichnet (Lenhard, S. 116).
Der Autor greift zunächst weiter aus, indem er zunächst über die Stifterfamilie Weil berichtet, eine Familie von Getreidehändlern, die im späten 19. Jahrhundert den Bogen von Europa nach Südamerika (Argentinien) geschlagen und hierbei großen Reichtum erworben hatten. Hermann Weil galt vor dem ersten Weltkrieg als der größte Getreidehändler der Welt und der Sohn Felix wurde zum Marxisten, Stifter und Mäzen. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen jüdischen Glaubens konvertierten die Weils nie, was ihnen im Nationalsozialismus ohnehin nichts genützt hätte.
Die Erzähltechnik Lenhards ist dadurch gekennzeichnet, dass er jedes Kapitel mit einer Szene einleitet, die sich so oder ähnlich tatsächlich abgespielt haben könnte. Während der gesamte Band in sechs Teile unterteilt ist, gibt es darüber hinaus 22 fortlaufend nummerierte Kapitel, die jeweils etwas zeitlichen Fortgang, aber vor allem thematische Vertiefung bieten. Dabei hat der Autor weitgehend sehr treffende Überschriften gefunden.
Der Erste Teil m. d. T. „Ein marxistisches Institut entsteht“ greift wie angesprochen zurück und setzt im Wesentlichen im Jahre 1918 ein. Darin wird auch über die Gründung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main berichtet, für das Vater und Sohn Weil letztlich die materielle Grundlage schufen – und damit mittelbar auch die Frankfurter Universität unterstützten.
Im zweiten Teil wird über „Das Café Marx des Prof Grünberg“ berichtet, was die Zeit bis 1930 umfasst. Carl Grünberg (1861 bis 1940), der von Wien nach Frankfurt kam, gilt als Vater des Austromarxismus und war zunächst Jurist und sodann Staatswissenschafler. Am IfS, das der Universität angegliedert wurde, hatte er einen Lehrstuhl für wirtschaftliche Staatswissenschaften inne.
Nachfolger Grünbergs, der ab 1928 wegen eines erlittenen Schlaganfalles die Geschäfte des IfS nicht mehr führen konnte, wurde der Sozialphilosoph Max Horkheimer (1895 bis 1973), dessen zunächst kurzes Wirken in Frankfurt Lenhard ebenfalls schildert: „Unterwegs zur kritischen Theorie (1930 – 1933)“.
Der Autor schildert hier die Entwicklung des Instituts einschließlich der wesentlichen Forschungsthemen bis zur durch die Nazis erzwungenen Schließung und der Emigration der Protagonisten.
Der nächste Teil „Ein Asyl für Obdachlose (1933 – 1949)“ schildert nicht nur, wohin die handelnden Personen flohen, sondern darüber hinaus auch, welche Auslandsaktivitäten das Institut entfaltete. Zentral ist hier die Darstellung der 1934 errichteten Zweigstelle des Instituts in New York in Kapitel 16 („Auf Morningside Heights“).
Der fünfte Teil über „Die Etablierung der Frankfurter Schule (1949 – 1973)“ erzählt von Rückkehr und Wiederaufbau in Frankfurt – in einem 1951 errichteten Neubau an der Senckenberganlage 26 (schräg gegenüber dem alten Standort) und wiederum unter Leitung von Horkheimer. Hierin wird zunächst geschildert, wie die inzwischen teilweise von New York nach Kalifornien weitergezogenen Forscher unter Beobachtung amerikanischer Sicherheitsbehörden standen und sodann nach Frankfurt zurückkehren – bis sie in die Studentenunruhen der späten Sechzigerjahre involviert wurden.
Im letzten Abschnitt „Nachleben“, der von 1973, dem Todesjahr Max Horkheimers, bis in die Gegenwart des Jahres 2024 reicht, werden die Erben der „Frankfurter Schule“ mit ihrer „Kritischen Theorie“ betrachtet und auch das Institut selbst bis in die Gegenwart verfolgt.
Philipp Lenhardt, der 2019 mit seiner Arbeit begann, nachdem er in eben jenem Jahr eine Biographie über Friedrich Pollock (1894 bis 1970), einem der frühen und langjährigen Mitglieder des Instituts, veröffentlicht hatte, hat ein gut lesbares Buch geschrieben. Es zeigt nochmal auf, in welch hohem Maße Intellektuelle und Gelehrte jüdischen Glaubens Einfluss auf das demokratische Deutschland in Weimar und Bonn ausgeübt haben – und dies speziell in Frankfurt am Main. Unweit des Instituts finden wir bis heute das eingangs angesprochene Café, das sowohl in den 1920ern wie in den 1960ern ein zentraler Treffpunkt jener Intellektuellen gewesen ist, die wir seit Jahrzehnten als „Frankfurter Schule“ zusammenfassen.
Wer an der geschichtlichen Entwicklung der Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert, an Frankfurter Geschichte wie auch an Wirken und Schicksal jüdischer Gelehrter in Deutschland und darüber hinaus interessiert ist, findet bei Lenhard reiche Erkenntnis. Dabei finden sich im Buch nur wenige offensichtliche Fehler (wie etwa die Zuordnungen des linken Zentrumspolitikers Joseph Wirth zur SPD (S. 51). Der Leser lernt etwas über Bildungsreformen im 20. Jahrhundert und viel über die Akteure, darunter etwa der spätere kommunistische Spion im Zweiten Weltkrieg Richard Sorge, der als Mitarbeiter des IfS im Buch schon früh als Kontaktmann des sowjetischen Geheimdienstes nachgewiesen wird (S. 36).
Alles in allem scheint in den Schilderungen Lenhards ein stückweit Frankfurter Caféhauskultur auf, die leider der Vergangenheit angehört. Denn nach dem Tod Max Horkheimers und der Begründung der Frankfurter Schule beginnt die Nach-68er-Phase der Hausbesetzer in Frankfurt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Philipp Lenhard
Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule
Verlag C.H. Beck, 2024
624 Seiten; 43,00 Euro
ISBN: 978-3-40681356-6