Marina Münkler bricht mit uns in neue Welten auf
Matthias Wiemers
„Dependencia“, der spanische Begriff bezeichnet eine besondere Theorie der Abhängigkeit von Entwicklungsländern von Industriestaaten – verbunden letztlich mit dem Vorwurf, die so genannte Erste Welt lebe auf Kosten der Dritten. (Die Theorie stammt aus den 1960er Jahren und je nach Standpunkt bemüht man sich entweder, sie zu ignorieren, zu widerlegen oder als selbstverständlich zutreffend zu unterstellen.) Wie man auch heute in Bezug auf die Gegenwart hierzu stehen mag, so zeigt doch ein Blick in die Geschichte, dass diese Abhängigkeit jedenfalls historisch einmal entstanden ist. Und das Jahrhundert der Entstehung der real existierenden „Dependencia“ ist das 16. der modernen Zeitrechnung. Die Dresdner Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Marina Münkler zeigt in ihrem vor einigen Monaten erschienenen und für ein breites Publikum geschriebenen Buch nun, welche Veränderungen sich in diesem Jahrhundert ergeben haben.
Das erste Kapitel ist weitgehend der Frage gewidmet, wie das 16. Jahrhundert in den Gesamtverlauf der Geschichte einzuordnen und wie lang es überhaupt gewesen ist. Wäre nicht bereits auf der ersten Seite des Kapitels von der „Medienrevolution des Buchdrucks“ die Rede, man könnte meinen, ein neues Werk Herfried Münklers vor sich zu haben, mit dem Marina Münkler auch mehrere Gemeinschaftswerke verfasst hat (Im Nachwort dankt sie ihm dann auch besonders als ihrem wichtigsten Gesprächspartner, dem das Buch gewidmet ist, S. 536). Für diese Annahme streitet denn auch der Prolog, in dessen letztem Absatz die Autorin ausdrücklich Abstand nimmt von einigen Sujets ihrer Profession: „Dies in den Blick zu nehmen setzt jedoch voraus, dass man das 16. Jahrhundert nicht von den Gipfelwerken der Kunst, Literatur oder des politischen Denkens aus beschreibt, also nicht ein weiteres Mal Dürer, Michelangelo oder Tizian, Shakespeare oder Cervantes, Machiavelli oder Bodin in den Mittelpunkt rückt. Eine solche Perspektive auf das 16. Jahrhundert mag lehrreich sein, aber man würde dabei die grundlegenden Konfliktlinien der Zeit übersehen. An den Auseinandersetzungen um die „Wilden“, die „Heiligen“ und die „Türken“ dagegen kann man das 16. Jahrhundert als eine durch und durch dramatische Epoche erkennen – den Anbruch der neuen Zeit als einen Beginn, der sein Ende schon in sich trägt“ (S. 17). So wird nun im ersten Kapitel „Eine grundstürzende Epoche. Das 16. Jahrhundert aus globaler Perspektive“ betrachtet (S. 19 ff.).
Das 2. Kapitel ist der Entdeckung der „Neuen Welt“ gewidmet, dem Wettlauf zwischen Portugiesen und Spaniern nach dem in westlicher Richtung vorgestellten „Indien“ (S. 59 ff.). Wird darin die Geschichte der Konquistadoren als Kreisunternehmer erzählt, die den neu entdeckten Kontinent auszubeuten verstanden, so werden im dritten Kapitel zaghafte Versuche geschildert, bei der Entwicklung eines Völkerrechts durch Theologen der menschenverachtenden Ausbeutung der „neuen Welt“ behutsam Grenzen aufzuzeigen.
Das vierte Kapitel führt nun vollständig zurück nach Eurasien: „Eine neue Weltmacht entsteht: Die Expansion des Osmanischen Reichs“ (S. 173 ff.). Es wird ein fortschrittliches, den christlichen, auf das Rittertum gegründeten Monarchien überlegenes System beschrieben, das in sich auch auf der Sklaverei beruht.
Ab dem 5. Kapitel nehmen die Elemente kulturwissenschaftlicher Beschreibungen zu. „Kreuzzugspropaganda und Verteidigung der Christenheit: Die Türken als europäisches Feindbild“ (S. 229 ff.). Hier wird u. a. die Eroberung der oströmischen Hauptstadt Konstantinopel (Byzanz) durch das Osmanische Reich im Jahre 1453 geschildert, die freilich in der Mitte des 15. Jahrhunderts liegt. Gleichwohl ist dies die Vorgeschichte für das, was dann im 16. Jahrhundert geschieht. Münkler schildert, wie sich in ein, zwei Jahren nach der Eroberung von Byzanz in der gesamten „lateinischen Christenheit“ eine Öffentlichkeit bildet, in der die Kriegszüge der Osmanen zum Medienereignis wurden, weil darüber in Schrift- und Bildmedien berichtet wurde (S. 241 ff.) . Es kommt zu einer Wiederentdeckung der Kreuzzugsidee mit den „Türken“ (Osmanen) als Feindbild, die man in ähnlicher Form zu „Barbaren“ erklärt wie die „Indios“ in Amerika als „Wilde“. Deutlich wird: Bei der Entstehung der Europaidee haben die Türken Pate gestanden (vgl. S. 248 ff). Die Seeschlacht von Lepanto als wohl größtes militärisches Ereignis des Jahrhunderts findet bildliche Darstellungen, die von Münkler inhaltlich und hinsichtlich ihrer Entstehungsgeschichte beschrieben werden (S. 280 ff.). Dies gilt auch schon für die zuvor stattgefundene Schlacht um Tunis 1535, die vor allem in schriftlichen Beschreibungen bejubelt wurde, weil auch dort die christlichen Heere siegten (S. 276 ff.).
Das sechste Kapitel ist Martin Luther und der Reformation gewidmet, weil sich Luther in seinen 95 Thesen u. a. gegen den Ablasshandel und die Kreuzzüge gegen die Türken gewandt hatte (S. 293 ff.). Luther wird denn auch im Laufe des Kapitels zum Türken, im Sinne der gegnerischen Propaganda (S. 335 ff.).
Das vorletzte Kapitel ist den Heiligen gewidmet, die es vornehmlich in der katholischen Kirche gab und die Luther eigentlich ablehnte. Münkler zeigt aber auf, wie auch die Protestanten Heilige brauchten, und zwar eher aufgrund ihrer Schicksale als Märtyrer im Glaubenskampf (S. 347 ff.). Auch um die Heiligeneigenschaft Luthers selbst wird nach dessen Tod gestritten (S. 386 ff.).
Das letzte Kapitel führt nun einige Entwicklungsstränge zusammen: „Heilige Märtyrer, Hexen: Religionskriege und Verfolgungen in der Alten und Neuen Welt“ (S. 391 ff.). Hier zeigt Münkler, wie die Jungfrau Maria und andere Heilige bei der Verfolgung von Interessen in der neuen Welt eingesetzt werden, wie die Calvinisten von einem calvinistischen Brasilien träumen (S, 400 ff.), wie Glaubenskriege in Frankreich ausbrechen (S. 410 ff.) und wie „Neue Heilige in der Neuen Welt“ entstehen (S. 419 ff.). Der Aufstand der Niederlande gegenüber den spanischen Habsburgern führt letztlich dazu, dass aus Sicht der Niederländer jedenfalls die Eroberung der Neuen Welt nicht mehr positiv als Entdeckung, sondern als Tyrannis wie die habsburgische Herrschaft in den Niederländern selbst empfunden wurde (S. 431 ff.). Hilfreich hierbei waren Übersetzungen kritischer (völkerrechtlicher) Schriften ins Niederländische – wobei auch die Frankfurter Buchmesse, die sich in dieser Zeit etabliert, eine gewisse Rolle spielte (S. 436). Hexenverfolgungen bilden schließlich ein weiteres verbindendes Element zwischen der damaligen Alten und der neuen Welt (S. 440 ff.). Ein schöner Epilog zeigt noch einmal auf, wie sich in diesem 16. Jahrhundert die globale Ökonomie und beispielsweise die Statistik herausbilden. Das Völkerrecht wurde schon erwähnt, hier wird zudem das Entstehen von Wörterbuchprojekten erwähnt, weil die Auseinandersetzung mit fremden Völkern dies offenbar ebenfalls erforderte (451 ff.).
Der Band enthält zwei Bildteile, worin Gemälde wiedergeben werden, die im Text eine Beschreibung erfahren.
Alles in allem: Wenn auch der Sommer vorbei zu sein scheint, so bietet der sehr gut zu lesende Band sicherlich auch Gelegenheit zur Lektüre im Alltag. Das unter Nutzung der Ressourcen der Dresdner TU entstandene Werk zeigt nicht zuletzt, wofür wir mit unseren Steuergeldern universitäre Forschung finanzieren. Solcherart Forschung dient dem Nutzen vieler Leser.
Marina Münkler
Anbruch der neuen Zeit. Das dramatische 16. Jahrhundert
Verlag Rowohlt Berlin, 2024
544 Seiten; 34,00 EUR
ISBN: 978-3-87134-176-2