Immer mehr Bolivianer sind enttäuscht vom linken Wirtschaftskurs ihres Präsidenten Evo Morales – sie gründen Kleinunternehmen oder beteiligen sich an diesen
Benedikt Vallendar
La Paz / El Alto – „Hier an der Stelle wurde ich letzte Woche zweimal geblitzt“, schimpft Pablo. 10 Bolivianos, rund einen Euro haben ihm die Beamten abgeknöpft. „Dafür müssen manche einen halben Tag arbeiten“, sagt er. Der 34-Jährige sitzt am Steuer seines gebrauchten Kleinbusses und ist auf dem Altiplano in Bolivien unterwegs, einer der ärmsten Regionen der Welt. Es ist neblig-kalt, die Landschaft karg und unwirtlich hier oben auf knapp 3.700 Metern Höhe. Knapp 170.000 Quadratkilometer umfasst das Altiplano, es streckt sich von Peru über Bolivien bis in den Norden Argentiniens. Eine dicke Jacke, ein Schal und feste Schuhe gehören zur Grundausstattung. Und nicht zu vergessen eine ausreichende Kopfbedeckung, um gegen die stechende Sonne geschützt zu sein. Die knapp 40 Kilometer lange Strecke von El Alto nach La Paz, der 1,6-Milllionenstadt in den Anden und Sitz der bolivianischen Regierung, kostet fünf Bolivianos, rund 50 Euro-Cent, soviel wie ein Mittagessen.
El Alto ist die größte Stadt auf dem Altiplano. Bis vor zwanzig Jahren war sie eine bloße Ansiedlung vor den Toren La Paz`. Heute ist es eine Millionenmetropole, die beständig wächst. Seit 2006 wird Bolivien von Evo Morales, einem sozialistischen Präsidenten regiert. Im Wahlkampf hatte Morales den Menschen viel versprochen – und bis heute wenig gehalten. „Pan, techo, trabajo“ – Brot, ein Dach über dem Kopf und vor allem Arbeit und Einkommen, mit dieser Wahlkampfparole war Morales gestartet. Und viele hatten ihm, dem ersten Präsidentschaftsbewerber indianischer Herkunft, geglaubt. Hinzu kam seine gebetsmühlenhaft vorgetragene Kritik an den USA, die er von jeher für die wirtschaftliche Misere Boliviens verantwortlich macht. Doch seine famose Idee, die natürlichen Ressourcen des Landes zu verstaatlichen, führte dazu, dass internationale Investitionen in Bolivien stark zurück gegangen sind und das Land technologisch immer weiter zurückfällt. Ausländische Geldgeber überlegen es sich heute dreimal, ob sie in ein Land investieren, in dem allein der Staat die Gewinne einstreicht. Heute vermarktet der bolivianische Staat rund 82 Prozent der Erdgasvorkommen, was ausländische Kapitalgeber davon abhält, in dem Andenstaat zu investieren. US-amerikanische, europäische und auch brasilianische Erdgasunternehmen, die lange Jahre in Bolivien vertreten waren, haben ihr Personal reduziert und damit auch das Know how, auf das der Andenstaat so dringend angewiesen ist. Es dürfte, angesichts der wirtschaftlichen Gesamtsituation Boliviens, eine Frage der Zeit sein, bis die Regierung ihren Konfrontationskurs beendet und wieder mit den ausländischen Unternehmen zusammenarbeitet.
Soziale Wohltaten als Wahlkampfmittel
Denn allein der Besitz von Rohstoffen kann ein Land nicht reich machen. Fachleute sind gefragt, wenn es darum geht, das Gas und die vielen anderen wertvollen Erze aus tiefen unterirdischen Gesteinsschichten an die Oberfläche zu bekommen. Doch an Fachleuten mangelt es in Bolivien allerorts, nicht nur bei der Rohstoffgewinnung. Anstatt sich zu öffnen, wie einst Japan und China, kapselt sich Bolivien unter Evo Morales politisch immer weiter ab, mit fatalen Folgen für den Vielvölkerstaat. Noch immer leben zwei Drittel der Bolivianer in Armut, 40 Prozent gar in extremer. Die kurzfristigen Mehreinnahmen aus der Erdgasvermarktung hat die Regierung in bescheidene Sozialleistungen gesteckt, ohne dass sich grundlegend etwas im Land geändert hätte. Noch immer gibt das Land jährlich rund eine Milliarde Euro mehr aus, als es einnimmt. Die Verschuldung wächst. Das staatliche Defizit liegt bei rund 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Es ist ein Leben auf Pump in einem Land, das außerhalb seiner begrenzten Rohstoffvorkommen kaum Möglichkeiten hat, seine Auslandsschulden zu begleichen. In Bolivien bekommen allein stehende Mütter heute umgerechnet fünf Euro im Monat als Unterstützung für die Ernährung ihrer Kinder, Senioren eine staatliche Mindestrente von knapp 20 Euro. Gegen Vorlage ihres Personalausweises, der cédula, bei weitem nicht jeder Bolivianer besitzt eine, können sich Menschen jenseits der 67 ihre kärgliche Rente bei einer Bank in bar auszahlen lassen. Vorausgesetzt, es gibt eine in ihrer Nähe und sie bekommen die komplizierten Formulare ausgefüllt. Wer auf dem Land oder irgendwo im Hochgebirge lebt und zudem, was in Bolivien häufig der Fall ist, noch Analphabet ist, bekommt keine Rente. Mit kleinen pekuniären Wohltaten hat Morales seine Wähler kurzfristig zufrieden gestellt. Doch kann das Land auf Dauer nur gesunden, wenn Kapital, Kontakte und damit auch neue Ideen den Weg nach Bolivien finden.
Lithium als Hoffnungsträger
„Dummheit und Stolz, wachsen auf einem Holz“, sagt Pablo über die Regierung Morales. Den von Morales gepriesenen „Sozialismus“ hält er inzwischen für einen Betriebsunfall in der jüngeren Geschichte seines Landes. Und damit steht er nicht allein. Viele Bolivianer nervt es, überall im Land die Propagandaplakate von Morales „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) sehen zu müssen, ohne dass sich Nennenswertes im Land geändert hätte. Internationale Schlagzeilen machte Bolivien zuletzt 2009, als am Salar Uyuni, jenem TV-bekannten Salzareal im Süden des Landes, die weltweit größten Lithium-Vorkommen entdeckt wurden. Lithium ist ein wichtiger Bestandteil von Mobiltelefonen und Flachbildschirmen wird künftig auch in Elektrofahrzeugen Verwendung finden. Die Regierung will die Lithium-Gewinnung, die hohen Profit verspricht, allein in staatliche Hand legen, derweil ausländische Firmen sich weigern, Bolivien ohne Gegenleistung das dafür notwendige Know how zur Verfügung zu stellen. Mit eigenen wissenschaftlichen Anstrengungen in Sachen Lithium-Gewinnung am Salar Uyuni, dem größten Salzsee der Welt, stemmt sich die Regierung trotzig gegen den unausgesprochenen Technologieboykott des Auslands, vor allem des Westens. Damit ist das Problem jedoch nicht gelöst. Statt auf internationale Kooperationen zu setzen, denkt die Regierung Morales immer noch in den Kategorien des 17. und 18. Jahrhunderts, als das heutige Bolivien spanische Kolonie war. Seinen Wählern hatte sich Evo Morales, ein gelernter Bäckereigehilfe, als Befreier vom Joch des „Imperialismus“ angekündigt. Erreicht hat der selbst ernannte Messias das Gegenteil. Bolivien ist heute mehr denn je auf Warenimporte und ausländischen Technologietransfer angewiesen. Auch der Dienstleistungssektor ist nachwievor unterentwickelt. Selbst in La Paz gibt es keine „Gelben Seiten“, jene páginas amarillas, wie sie heute in den meisten südamerikanischen Großstädten üblich sind. Zaghafte Versuche der Regierung Morales, ihr Land wirtschaftlich auf die Beinen zu bekommen, sind bislang ergebnislos versandet. Die Folgen sind fatal. Immer mehr Menschen strömen aus den Hochanden nach El Alto. In ihren Dörfern gibt noch immer so gut wie keine Infrastruktur, nicht einmal Wasser, selten Strom, und ganz zu schweigen von medizinischer Versorgung, Internet oder Bildung. Wer in Bolivien eine öffentliche Bücherei sucht, wird allenfalls in der Hauptstadt fündig. Ein Meer von kleinen, grau-braunen Flachbauten, häufig ohne Kanalanschluss prägt heute das Stadtbild El Altos. Dazwischen schlängeln sich enge Gassen, in denen sich verliert, wer sich nicht auskennt. Straßennamen sind in bolivianischen Städten eher unüblich, manchmal helfen Nummern weiter. Aber so genau weiß das in El Alto niemand. Auf den zumeist brach liegenden Feldern am Stadtrand weiden ein paar ausgemergelte Rindergruppen, und es sind Indianerfrauen zu sehen, die ihre bunt in Wollkleidung verpackten Kinder per Huckepack über die Hochebene tragen. Im Osten erhebt sich der Illimani, mit 6.439 Metern der zweithöchste Berg Boliviens.
Kleinunternehmer und Aktienemitent
Mehrmals täglich fährt Pablo die Strecke von El Alto nach La Paz. Kürzlich hat er ein eigenes, kleines Transportunternehmen gegründet. Die Kleinfirma besteht aus ihm, seiner Frau, dem Minibus und einem Handy, mit dem Pablo für seine Kunden erreichbar sein möchte. Mit selbst gedruckten Visitenkarten macht er für sich Werbung. Firmensitz ist eine kleine Behausung in El Alto, die die Familie von Pablos verstorbener Schwiegermutter geerbt hat. Pablo ist ein klassischer Kleinunternehmer, der selbst zusehen muss, wie er seine Familie satt bekommt. Auf den Staat ist in Bolivien wenig Verlass. Ebenso sind freie Stellen in der Wirtschaft eher rar gesät oder schlecht bezahlt. Nun sucht Pablo Leute, die sich an seiner Firma beteiligen möchte, wofür er eine kleine, jährliche Ertragsgutschrift zahlen würde, wie er sagt. Zwei Nachbarn aus Pablos Straße haben ihm schon umgerechnet 200 Euro geliehen, sagt er. Das Geld stammt von Verwandten aus den USA. Damit soll Pablo nun wirtschaften. Seinen Geldgebern will er am Jahresende knapp 70 Bolivianos Dividende auszahlen, also sieben Euro, was einer Rendite von knapp vier Prozent entspräche. Mit seiner „kapitalistischen“ Wirtschaftsweise zeigt der Kleinunternehmer Pablo seinem linken Präsidenten Evo Morales die kalte Schulter. Denn dieser hat von Ökonomie kaum Ahnung oder schlechte Berater.
Kleinsparer verleihen Geld an Kleinunternehmer
Das große Heer der Bolivianer lebt von der Hand in den Mund. Auch deshalb haben es ausländische Firmen schwer. Und große Aktiengesellschaften, auf Spanisch „Sociedad anónima S.A.“ genannt, widersprechen im Grunde der bolivianisch-indianischen Tradition des sich gegenseitigen Helfens und Unterstützens. „Namenlose Unternehmensanteile“, wie es aus dem Spanischen übersetzt heißt, haben in Bolivien auf absehbare Zeit keine Zukunft, da kaum jemand anonym, selbst einer Bank nicht, Geld leihen würde. Und Banken haben in Südamerika einen eher zweifelhaften Ruf. Zu viele Skandale hat es mit ihnen in der Vergangenheit gegeben. Nicht nur einmal haben sich ganze Vorstände mit den Kundeneinlagen auf nimmer Wiedersehen aus dem Staub gemacht. Der Durchschnitts-Bolivianer leiht sein mühsam Erspartes lieber einem Freund oder Familienangehörigen, damit dieser damit wirtschaftet, und wenn es umgerechnet 50 Euro sind, ein durchschnittlicher Monatslohn.
Harte Währung für „harte Zeiten“
Andere wiederum wechseln ihre heimische Währung Boliviano in US-Dollar oder Euro und stecken die harte Währung für harte Zeiten unters Kopfkissen. Klassische Bankprodukte wie in Europa und den USA sind nicht weit verbreitet. Die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung Boliviens ist typisch für ein Land, in dem der Staat auf breiter Front versagt hat und Bürger ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Pablo gehört zu jenen Klein- und Kleinstunternehmern, die es auf dem bolivianischen Altiplano zu Tausenden gibt. Die meisten sind Ein- bis Zweimannbetriebe, micro-empresas genannt. Manchmal hilft ein Verwandter, Freund oder Bruder, der meist auch keine Arbeit hat und froh ist, wenn er ein paar Bolivianos hinzuverdienen kann. Ohne Familie, ohne eine intakte Gemeinschaft wäre der Einzelne auf dem Altiplano verloren. „Wer etwas mehr Geld als die anderen verdient, der teilt, damit alle satt werden“, sagt Pablo. So ist es bei den Aymara-Indianern seit jeher Tradition, und nur so konnten sie die vergangenen Jahrhunderte seit der spanischen Kolonsierung Mitte des 16. Jahrhunderts überleben. Die Menschen arbeiten als Schuster, haben kleine Tischlereien, verkaufen billiges Plastikgeschirr aus China oder bieten Selbstgebackenes am Straßenrand an. Fast scheint es, als entstünde in Bolivien eine kleine Mittelschicht, aber nicht wegen, sondern trotz der Politik Morales`. „Auf diese Regierung ist kein Verlass“, sagt Pablo. Von den versprochenen Jobs sei nichts geblieben. Bis heute müssen sich die meisten Bolivianer irgendwie durchschlagen. „Die, die Morales wählten, lebten in einer Illusion und haben sich durch seine rhetorischen Solidaritätsbekundungen mit der `Arbeiterklasse` um den kleinen Finger wickeln lassen“, sagt Pablo. Er selbst würde sich ja auch zur „Arbeiterklasse“ zählen – doch mit den Sozialisten will er nichts zu tun haben. Viele Bolivianer denken wie er. Im Herbst 2011 musste Morales bei den Richterwahlen eine erste herbe Schlappe für seine gescheiterte Politik einstecken. Hinzu kommt dessen laizistische Politik, die im katholisch geprägten Bolivien in weiten Bevölkerungskreisen auf Unverständnis stößt. Immer mehr Bolivianer merken, dass sie mit Morales einem politischen Schaumschläger aufgesessen sind und es sich lohnt, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.
Hilfe von einem Steyler Missionar
Pablo ist voller Ideen und Tatendrang, besonders, seit seine Frau mit dem vierten Kind schwanger ist. „Manchmal fahre ich Touristen bis zum Titicacasee und kassiere dafür umgerechnet 30 Euro“, sagt er. Doch solche Touren sind, auch wegen der starken Konkurrenz im Transportgewerbe, eher selten. Ein Steyler Missionar, Pater Gustavo Jaimes SVD (43) aus Argentinien, der in El Alto als Seelsorger arbeitet, hat Pablo beim Gang in die Selbstständigkeit geholfen. Und dabei hatte Pablo echtes Glück. Denn der Minibus, den er heute über das Altiplano steuert, stammt aus dem Nachlass eines verstorbenen spanischen Amtsbruders von Pater Gustavo. Für die Anschaffung des Mobiltelefons mitsamt Vertrag hat sich Pablo bei Pater Gustavo knapp 120 Euro geliehen, Geld eines Wohltäters, das er nun jeden Monat in ungerechnet fünf-Euro-Raten an den Missionar zurückzahlt. Pater Gustavo hatte Pablo, nach ein paar privaten Schicksalsschlägen, ermutigt, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen und das „Beste“ daraus zu machen, wie er sagt. „Pater Gustavo sieht seine Aufgabe als Missionar nicht nur im Predigen, sondern auch in der praktischen Lebenshilfe, um das Gottvertrauen der Menschen zu stärken“, sagt Pablo über seinen katholischen Mentor. Bis vor wenigen Jahren verdingte sich Pablo, der nur über eine sechsjährige Grundschulausbildung verfügt, gegen einen Hungerlohn als Verkäufer in einem Straßenimbiss. Irgendwann hatte er das Geld für die Buslizenz, und heute verdient Pablo so viel, dass seine Kinder satt werden und manchmal sogar noch Geld für Schulhefte und eine Zeitung bleibt.
Die Scheiben in Pablos Minibus sind beschlagen, es ist noch immer klirrend kalt, und der Selfmademan hat Mühe, die Straße im Blick zu halten. Der asphaltierte Höhenpass ist an einigen Stellen spiegelglatt, obwohl die Sonne hoch am Himmel steht. “Brilla pero no calienta“, sie scheint, aber sie wärmt nicht, sagen die Menschen hier oben über das Sonnenlicht. Und wahrscheinlich war es gut, dass Pablo kürzlich von der Polizei verwarnt wurde. Denn auf der Strecke passieren viele Unfälle, sagen die Leute. Abgefahrene Reifen mögen eine Ursache sein. Für Winterreifen und vieles andere hat in Bolivien kaum jemand Geld. Dennoch gibt es in El Alto kleine Geschäfte, Handyshops, sogar Bankautomaten, Imbissstände und Autowerkstätten, an denen Pablos Minibus vorbeifährt. Meist arbeiten dort angelernte Hilfskräfte, die aus Schrottautos brauchbare Ersatzteile heraus schweißen und diese laienhaft in andere Fahrzeuge einbauen. Über eine reguläre Ausbildung als Kfz-Mechaniker verfügt kaum jemand. Heranwachsende Schulabbrecher sind oft den ganzen Tag damit beschäftigt, Nockenwellen, Zylinderkopfdichtungen, Fahrgestelle und Getriebe auszubauen. Die Teile werden fast liebevoll von Hand geschmirgelt, in der Hoffnung, dass sich irgendwann ein Käufer dafür findet.
Internet: www.lai.fu-berlin.de