Ein Zwang namens Freiheit

Der Philosoph Byung-Chul Han über die „Müdigkeitsgesellschaft“

Thomas Claer

lit-tc-han-mudigkeitsgesellschaft-cover„Die Ausbeutung des Menschen / Erreicht eine neue Qualität“, heißt es in einem bereits anderthalb Jahrzehnte alten Tocotronic-Song, den der Hamburger Bürgermeister a.D. Ole von Beust (CDU) bemerkenswerterweise einmal als sein persönliches Lieblingslied bezeichnet hat. Wie man das aber, also das mit der Ausbeutung, für unsere Gegenwart zu verstehen hat, erläutert der koreanischstämmige Karlsruher Philosoph Byung-Chul Han in seinem erstmals 2010 veröffentlichten Essay „Müdigkeitsgesellschaft“, der inzwischen bereits in der 7. (Klein-) Auflage erschienen ist und somit den Status eines kleinen Bestsellers erreicht hat. Der Verfasser sieht die entwickelten spät- und postindustriellen Regionen der Welt nämlich im Übergang von der „Disziplinargesellschaft“ zur „Leistungsgesellschaft“, was letztlich den veränderten ökonomischen Zwängen geschuldet sei: „Zur Steigerung der Produktivität wird das Paradigma der Disziplinierung durch das Paradigma der Leistung ersetzt.“ Ab einem bestimmten Produktivitätsniveau sei das Leistungssubjekt schneller und produktiver als das Gehorsamssubjekt. Und damit einhergehend entstehe ein neuer Menschentyp, in dem Freiheit und Zwang zusammenfallen. Dieser lasse sich, anders als der des klassischen „Lohnsklaven“, nicht mehr nur von anderen ausbeuten, sondern übernehme das gleich selbst, und zwar freiwillig, ohne Fremdzwänge, denn „Selbstausbeutung ist effektiver als Fremdausbeutung.“ Und längst erstreckt sich diese Selbstausbeutung nicht mehr nur auf die prekären Kreativen, sondern erfasst immer mehr Branchen und Berufe. Ob frei oder angestellt, ist hier schon gar nicht mehr die Frage. So wird gerade auch der eigentlich Mächtige, „der Herr“, zum Arbeitssklaven.
Aber warum, so fragt man sich, tun so viele Menschen sich das überhaupt an? Wer oder was zwingt sie eigentlich dazu? Es ist, weiß Byung-Chul Han, die „Leistungsgesellschaft“, die diese neuen Zwänge, ja sogar „neue Formen von Gewalt“, erzeugt hat, vor allem solche psychischer Art. So werde der Mensch zur „autistischen Leistungsmaschine“, seine Lebendigkeit, eigentlich ein komplexes Phänomen, auf die Vitalfunktion und Vitalleistung reduziert. Da kann und will natürlich nicht jeder mitgehen. Daher bringe die Leistungsgesellschaft regelmäßig Depressive und Versager hervor. Neuronale Erkrankungen wie ADHS, Borderline und Burnout bestimmten die pathologische Landschaft. Eine allgemeine Erschöpfung und Ermüdung angesichts des Zuviel an Beschleunigung, allgemeiner Promiskuität und Reizüberflutung breite sich aus. Ebenso radikal, so der Autor, ändert sich auch die Struktur und Ökonomie der Aufmerksamkeit. Hyperaktivität, die Hysterie der Arbeit und Produktion, und Multitasking bestimmten unser Leben. In letzterem sieht der Verfasser, stammesgeschichtlich betrachtet, einen Regress, wie er bei Tieren in der freien Wildbahn verbreitet ist. Und exakt an diese nähere sich die heutige Leistungsgesellschaft auch an. Nur noch zur zerstreuten, nicht mehr zur tiefen Aufmerksamkeit seien die Menschen imstande, so Han. Die Fähigkeit zur kontemplativen Versenkung gehe verloren. Zustimmend zitiert der Autor Friedrich Nietzsche: „Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus.“
Bis hierhin ist dem Befund des Verfassers kaum zu widersprechen. Aber gibt es denn für das so gequälte und entsprechend sensibilisierte Individuum eine Möglichkeit, sich diesen Zwängen zu verweigern, sich nicht durch destruktiven Ehrgeiz und eitles Konkurrenzdenken das schöne Leben, die Eudaimonia, verderben zu lassen? Jeder weiß, es ist verdammt schwer. Und es wird wohl auch letztlich jeder auf seine Weise immer wieder daran scheitern. Aber was Byung-Chul Han im letzten Kapitel als Ausweg empfiehlt, erstaunt dann doch: Niemand anders als den metaphysischsten aller lebenden Dichter, den Zeitgeist-Verächter und Karadzic-Versteher Peter Handke und seine zur Tugend gewendete „fundamentale Müdigkeit“ (aus dem „Versuch über die Müdigkeit“ von 1989). Denn diese befähige den Menschen zu einer besonderen Gelassenheit: zu einem gelassenen Nicht-Tun. Und jetzt aber Kontemplation!

Byung-Chul Han
Müdigkeitsgesellschaft
7. Auflage Matthes & Seitz Berlin 2012
70 Seiten, EUR 10,00
ISBN: 978-3-88221-616-5

Veröffentlicht von on Jul 2nd, 2012 und gespeichert unter DR. CLAER EMPFIEHLT. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

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