Eine Frage des Reifungsprozesses

Der neue Handkommentar „Jugendgerichtsgesetz“ aus dem Nomos-Verlag

Jens Jenau

jgg-kommentarAbweichend zum Strafgesetzbuch bildet das Jugendgerichtsgesetz (JGG) den rechtlichen Rahmen, wie mit strafnormverletzenden Verhalten junger Menschen umzugehen ist und welche Reaktionen darauf folgen sollen. Allein die Tatsache, dass der Gesetzgeber für jugendliches strafwürdiges Fehlverhalten einen eigenen Rechtsrahmen konstruiert hat, zeigt, dass die Reaktion eine andere als im Erwachsenenstrafrecht sein muss. Während das Erwachsenenstrafrecht sich am Schuldausgleich für die begangene Tat orientiert, folgt das JGG, wie in § 2 Abs. 1 JGG unmissverständlich niedergelegt, dem Primat des Erziehungsgedankens. Die Reaktion auf die Tat und das Verfahren selbst sollen den jungen Delinquenten zu einem straffreien Leben anhalten und ihm das Rüstzeug dafür geben.

Diesem Spannungsfeld mit dem Focus auf die Unterschiede zum Erwachsenenstrafrecht, den Fragen der Rechtsanwendung, dem Erziehungsgedanken und den daraus resultierenden Schwierigkeiten bei der angemessenen Gestaltung jugendstrafrechtlicher Reaktionen stellt sich seit Ende 2011 der Handkommentar „Jugendgerichtsgesetz“ aus dem Hause Nomos. Sein Anspruch ist es ausweislich des Vorwortes, „der Praxis einen aus den jugendkriminologischen Befunden entwickelten, wissenschaftlich fundierten, aber gleichermaßen der praxisnahen Lösung von Zweifelsfragen verpflichteten Begleiter für die Ausgestaltung der jugendstrafrechtlichen Reaktion zur Verfügung zu stellen.“

Unter der Herausgeberschaft von „Prof. Dr. Bernd-Dieter Meier“, „Prof. Dr. Dieter Rössner“, „Dr. Gerson Trüg“ und „Prof. Dr. Rüdiger Wulf“ bringt der neue Kommentar die Verfahrensabläufe vom Ermittlungsverfahren über das Hauptverfahren bis hin zum Jugendstrafvollzug in plausible Argumentationsstränge für offene Verteidigungsfragen. Dabei vergisst man auch nicht, die wesentlichen angrenzenden Rechtsgebiete zu beleuchten.

Regelmäßig haben Verteidiger mit dem Jugendstrafrecht zu Beginn ihrer Berufstätigkeit den ersten Kontakt. Dann sucht der Kollege natürlich nach Handbüchern und zuverlässigen Kommentaren, die nicht nur einen Überblick sondern auch einen schnellen wie verlässlichen Zugang zu diesem komplizierten Teilgebiet des Strafrechts gewähren. Ein solch verlässlicher Begleiter ist der Handkommentar „Jugendgerichtsgesetz“. Das 13-köpfige Autorenteam lässt erfahrene Praktiker und Wissenschaftler in dem Kommentar auf 1.032 Seiten zu Wort kommen. Sie schaffen es, etwa dem Rat suchenden Anwalt neben der Vermittlung des Fach- und Detailwissens die zur Verteidigung zwingend notwendigen jugendkriminologischen Grundlagen über die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen aufzuzeigen. Ohne dieses Grundgerüst ist eine sinnvolle und effektive Verteidigung im Jugendstrafverfahren nicht zu leisten.

Ein großes Plus des Werks ist der übersichtliche Aufbau und die Gestaltung. Den Ausführungen sind der Wortlaut der Norm und eine oft ausführliche Gliederung vorangestellt. Vereinzelt folgen noch Schrifttumshinweise. Die jeweiligen Kommentierungen erläutern zunächst (kriminalpolitische) Grundlagen, den Normzweck oder den persönlichen oder sachlichen Anwendungsbereich der Norm. Danach werden die einzelnen Merkmale, Tatbestandsvoraussetzungen, Begrifflichkeiten und Verfahrenshinweise kommentiert. Praktischerweise arbeiten die Autoren darin eine große Anzahl von Beispielen, Aufzählungen, Schaubilder, Tabellen, Tenorierungs- und Antragsvorschläge ein. Der Fußnotenapparat zitiert neuere Rechtsprechung und weiterführende Kommentarliteratur. In den Fließtexten sind vereinzelte Schlagwörter optisch hervorgehoben und unterstützen – ebenso wie das umfassende Stichwortverzeichnis – die gezielte Suche. Zweifelsfrei steigert dies alles die Lesbarkeit der Kommentierungen und dient dem schnellen Zugriff.

In dem Kommentar sind neben dem JGG einschlägige Vorschriften außerhalb dieses Gesetzes, besondere jugendstrafrechtliche Instrumente (z.B. JGG-RiLi, SGB VIII-Vorschriften zur Heimerziehung und Hilfen zur Erziehung, die familiengerichtlichen Maßnahmen zur Gefahrabwendung für das Kind aus dem BGB, Diversions-RiLi) aufgenommen und an den entsprechenden Stellen des JGG erläutert. Die ambulanten Maßnahmen des Gesetzgebers als Reaktion auf Jugenddelinquenz werden umfassend dargestellt. Charakteristisch – wie für den ganzen Kommentar – ist auch dort zu sehen, dass der Blick stets auf eine jugendgemäße Lösung gerichtet ist. Ein besonderes Gewicht wird z.B. auf den Täter-Opfer-Ausgleich und die Schadenswiedergutmachung  gelegt. In inhaltlicher Hinsicht sind „Remschmidts“ Ausführungen zur Verantwortlichkeit (§ 3 JGG) bemerkenswert. Ebenso hervorzuheben sind die Kommentierungen der §§ 17 ff. JGG zu Jugendstrafe von „Laue“. Dort trifft der Leser neben einer pragmatischen Argumentationslinie an entsprechender Stelle auf die kritische Betrachtung der Rechtsprechung. „Wulfs“ Kommentierung des Jugendarrests (§ 16 JGG) ist aufschlussreich. Neben den Anordnungsvoraussetzungen und einem Blick in die Historie erläutert er Verbindungen anderer Sanktionen mit dem Jugendarrest. Auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht überzeugen insbesondere die Kommentierungen der sehr praxisrelevanten Vorschrift des § 31 JGG oder die ebenso wichtigen  Ausführungen zur notwendigen Verteidigung im Jugendstrafverfahren (§ 68 JGG). Weitere Schwerpunkte erkennt der Leser bei den materiellen Regelungen des föderalen Jugendstrafvollzugsrechts und des Rechts der U-Haft und ihrer Alternativen. Natürlich sind die aktuellen Entwicklungen etwa zum Thema Sicherungsverwahrung oder die Diskussion um den Warnschussarrest (s. § 7 JGG) ausführlich und genau aufbereitet.

Der neue Handkommentar „Jugendgerichtsgesetz“ wird sich meiner Auffassung nach schnell etablieren, da er auch mit seiner über den juristischen Tellerrand hinaus gerichteten Kommentierung der Materie immer die Erfordernisse der Praxis fokussiert. Er überzeugt als reichhaltige Informationsquelle und zuverlässiger Ratgeber. Überaus gelungen ist die Nutzer- und Lesefreundlichkeit des Werks. Aufgrund dessen und der klaren wie schnörkellosen Sprache wird er zweifelsfrei nicht nur den juristischen Beteiligten im Jugendstrafverfahren sondern auch den anderen Beteiligten – etwa der Jugendgerichtshilfe oder der Bewährungshilfe – ein hilfreicher Begleiter sein.

Jugendgerichtsgesetz
Meier/Rössner/Trüg/Wulf (Hrsg.),
1. Aufl. 2011, 1.032 S., 88,00 €
Nomos Verlag,
ISBN: 978-3-8329-4946-4

Veröffentlicht von on Feb 4th, 2013 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

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