Aus dem Tagebuch eines Jurastudenten
Liebes Tagebuch,
seit mehr als einem Jahr stehe ich am Samstagmorgen auf und gehe in die Universität, um eine fünfstündige Probeklausur zu schreiben. Meistens wird ein Sachverhalt gestellt, der mich völlig überfordert. Dabei habe ich im Studium das eine oder andere Lehrbuch und Skript gelesen, ein Repetitorium und Wiederholungskurse der Fakultät besucht. Nahezu jedes sogenannte Problem befindet sich auf einer Karteikarte. Dazu treffe ich mich mit einer Lerngruppe, um Klausuren zu besprechen und alle mögliche Themen zu wiederholen. Übung und Wissen habe ich im Übermaß. Trotzdem lässt mich der Sachverhalt wie ein Ochse am Berg stehen. Dabei müsste ich längst über den Berg sein und endlich mit dem Referendariat anfangen. Aber nicht, dass dem so wäre. Wenn nach vierzehn Tagen die Klausur korrigiert zurückgegeben und besprochen wird, komme ich mir wie Sisyphos vor, der zusieht, wie sein Stein wieder bergab rollt. Nur ist mir nicht bewusst, welche Frevel ich begangen habe sollte, dass ich immer drittklassige Noten als Strafe verdient habe. Die Korrektur, sofern mit Hilfe eines Kryptographen entzifferbar, hilft kaum, eigene Fehler auszuräumen und zu entdecken: „Ihre Prüfung hat helle und dunkle Seiten“ oder „Aus didaktischen Gründen darf ich Ihre Klausur nicht besser bewerten“. Solche Anmerkungen sind echt super. Nachdem der Korrektor seitenweise Schlagwörter unterstrichen hat, um mir vorzugaukeln, dass er sich mit meiner Lösung auseinandergesetzt hat, verweist er mich zum weiteren Verständnis auf die Besprechung. Dort wird mir dann von einer wissenschaftlichen Hilfskraft oder einem Assistenten (viele Professoren sind scheinbar nicht in der Lage Klausuren zu besprechen) klar gemacht, was schon der Jurist Adolph Franz Friedrich Freiherr von Knigge im Jahre 1788 wusste: „Man sei äußerst vorsichtig im Schreiben, Reden, Versprechen und Behaupten gegen Rechtsgelehrte. Sie kleben am Buchstaben; ein juristischer Beweis ist nicht immer ein Beweis der gesunden Vernunft; juristischer Ausdruck nicht selten einer andern Auslegung fähig als gewöhnlicher Ausdruck und juristischer Wille oft das Gegenteil von dem, was man im gemeinen Leben Willen nennt“. Wieso funktioniert dann unser Rechtssystem überhaupt? Wahrscheinlich halten sich die Menschen an folgendes vom Freiherrn: „Doch was helfen alle Deklamationen (…) Einen besseren Rat weiß ich nicht zu geben als den: Man hüte sich, mit seinem Vermögen oder seiner Person in die Hände der Justiz zu fallen!“ Und ich? Ich schreibe weiter, denn vielleicht macht das Sinn.
Dein Alex