Die Reichskristallnacht am 9. November 1938 war der Höhepunkt einer einzigartigen Enteigungskampagne jüdischen Vermögens – ohne das Hitler seine Kriegspläne wohl frühzeitig hätte begraben müssen
Benedikt Vallendar
Berlin – Es waren die typischen Verhaltensmuster einer Diktatur: Ein Anlass, eine organisierte Meute und natürlich die zuvor gesicherte Kontrolle über alle Medien. Am 9. November 1938 gipfelte der staatliche Antisemitismus Adolf Hitlers in einem Pogrom gegen die im Reich lebenden Juden. Noch heute erinnern sich Zeitzeugen an den Rauch, die Zerstörungswut und den Hass, der in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1938 über zahlreiche jüdische Gotteshäuser einbrach. Die zynische Bezeichnung einer „Reichskristallnacht“, bei der es an vielen Orten im Land blitzte und donnerte, machte bald die Runde. „Es waren junge Männer, die wir hier nie bei uns in der Gegend gesehen hatten“, erinnert sich eine alte Frau aus dem Rheinland, die als Schülerin die Ereignisse hautnah miterlebt hat. Die Uniformen der Täter trugen dazu bei, dass sich kaum jemand aus der Nachbarschaft traute, den Bedrängten zur Seite zu stehen. Die meisten Nichtjuden schauten weg, einige beteiligten sich aktiv an den Ausschreitungen. Was Propagandaminister Joseph Goebbels später als „spontanen Volkszorn“ bezeichnete, war in Wirklichkeit eine von unteren Parteichargen wohl organisierte aber ohne konkretes Mandat betriebene Hetzjagd gegen jüdische Mitbürger, die sich seit Hitlers Machtergreifung zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt sahen. Dabei hatte es der selbst ernannte „Führer“ allein auf deren Vermögen abgesehen, ohne das er seine Kriegspläne wohl nie hätte umsetzen können.
Die systematische, physische Vernichtung der Juden begann allerdings erst mit Beginn des Zweiten Weltkrieges. Entgegen vorschneller Vermutungen, die lange Zeit die Geschichtsschreibung zur Reichskristallnacht geprägt haben, war Joseph Goebbels nicht unmittelbar in die Pogrome am 9. November eingebunden. Der PR-versierte Minister und sprachgewandte Doktor der Philosophie soll sogar vor möglichen „Negativreaktionen“ im Ausland und vor blindem Aktionismus gewarnt haben. Erst als die Büchse der Pandora geöffnet war und die Situation eskalierte, setzte sich Goebbels an die Spitze der Aktion gegen die Juden, die seinen Hass fortan immer unverhohlener zu spüren begannen. Das Wort vom „frechen, jüdischen Lügenmaul“ machte fortan die Runde und wurde zum Pseudonym für die tief sitzende Aversion der NS-Ideologie gegenüber dem Volke Abrahams.
Verzweiflungstat eines Einzelnen
Der Feuersturm, der am 9. November 1938 auf zahlreiche Synagogen im Reich niederging, hatte eine Vorgeschichte. Am Vormittag des 7. November 1938 erschoss der erst 17-jährige polnische Jude Herschel Grynszpan in der deutschen Botschaft in Paris den Diplomaten Ernst vom Rat. Der Schütze will mit seiner Tat auf die Deportation polnischer Juden im Oktober 1938 aufmerksam machen, unter denen sich auch seine Eltern befanden.
Schon am 8. November, am Tag nach dem Attentat, ereifert sich die NS-Zeitung „Völkischer Beobachter“ darüber, dass in Deutschland „Hunderttausende von Juden noch ganze Ladenpassagen beherrschen“. Am Abend sagt Goebbels in einer Rede, Ausschreitungen gegen Juden seien „von der Partei weder vorzubereiten noch zu organisieren“. Allerdings sei ihnen, „soweit sie spontan entstünden, auch nicht entgegenzutreten“. Die NS-Führung verständigt ihre Gauleitungen. Die Telefone laufen heiß. Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) soll Plünderungen verhindern, sich aber ansonsten „im Hintergrund“ halten, so heißt es offiziell. Und Brände nur dort gelöscht werden, wo umliegende Gebäude gefährdet sind. Gleichzeitig ergeht die Anweisung, so viele Juden wie möglich festzunehmen. In der Folge kommt es noch in derselben Nacht an hunderten Orten im Reich zu gewalttätigen Übergriffen. Obwohl die meisten Ausschreitungen in der Nacht des 9. November stattfanden, war die sogenannte Reichskristallacht nicht auf diese Zeit beschränkt. An einigen Orten, wie etwa in Nordhessen, brachen die ersten Unruhen schon nach Bekanntwerden des Attentats aus.
Insgesamt 91 Menschen fielen den Pogromen zum Opfer. Doch die Zahl ist weit untertrieben. Viele Menschen starben noch Wochen später an ihren schweren Verletzungen, darunter Kinder, Greise und schwangere Frauen. In den darauffolgenden Tagen geraten über 30.000 jüdische Männer in Haft und werden in Konzentrationslager verschleppt. Auch die materielle Bilanz der Gewalt ist verheerend. Mehr als eintausend niedergebrannte Synagogen, Gebetshäuser und 7.500 zerstörte Geschäfte sind das Ergebnis der Ausschreitungen. Sie sind Vorboten dessen, was den Deutschen wenige Jahre später mit den alliierten Luftattacken blühen wird. Zugleich begehen zahlreiche Juden Selbstmord, weil sie den allerorts spürbaren Feinseligkeiten nicht mehr gewachsen sind. Das NS-Regime erlässt Verordnungen, die den Juden auferlegen, eine „Sühneleistung“ in Höhe von einer Milliarde Mark an das Deutsche Reich zu zahlen. Sie haben alle Schäden sofort selbst zu beheben, die Kosten für die Wiederherstellung selbst aufzubringen und die von den Versicherungen gezahlten Entschädigungen an das Reich abzuführen. Außerdem wird die „Arisierung“ jüdischer Unternehmen und Betriebe angeordnet, und damit die meisten Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben verbannt. Die meisten dieser Verordnungen stammen aus dem Reichsinnenministerium von Wilhelm Frick, der sich dafür sieben Jahre später vor dem Militärtribunal der Alliierten in Nürnberg verantworten muss und im Oktober 1946 am Galgen endet. Als Jurist und treuer Gefolgsmann Hitlers war Frick stets das Paragraphenhirn der NSDAP gewesen. Vieles, was das Regime tat, verkleidete Frick in pseudorechtsstaatliche Gesetze, Verordnungen und Erlasse, die eine wichtige, formale Stütze der Hitlerdiktatur bildeten.
Neue Dimension der Judenverfolgung
Die antisemitischen Ausschreitungen am 9. November 1938 waren ein Wendepunkt in der Geschichte der Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland. Obwohl auch zuvor schon Synagogen in Brand gesetzt worden waren. Die erste systematische, reichsweite Aktion gegen die jüdische Bevölkerung war der Boykott ihrer Geschäfte im April 1933 gewesen. Mit den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 hatte die antisemitische Stimmung weiteren Auftrieb erhalten. Nach den Pogromen lief im Reich eine neue Welle antijüdischer Gesetze an, die alles Bisherige in den Schatten stellen sollte. Das berüchtigte „Ermächtigungsgesetz“ vom März 1933 machte es der NS-Regierung möglich, Gesetze per Dekret ohne Parlamentsbeschluss erlassen zu können. Davon hat Adolf Hitler reichlich Gebrauch gemacht. Seit Januar 1939 war Juden auch das Betreiben von Einzelhandelsgeschäften und Handwerksbetrieben sowie das Anbieten jeglicher Waren und Dienstleistungen untersagt. Jüdische Geschäftsinhaber oder Grundstücksbesitzer erhielten unverhohlene Drohungen, ihr Geschäft entweder unter Wert zu verkaufen oder an Fremde zu übertragen. Häufig waren daran frühere Angestellte beteiligt, die skrupellos ihre Verbindungen zur NSDAP nutzten, um sich privat zu bereichern. Auch hier sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache. Im Herbst 1939 befanden sich von ehemals 100.000 Betrieben jüdischer Inhaber nur noch knapp 40.000 in den Händen ihrer früheren Eigentümer. Juden verloren zugleich das Recht, eine Wohnung anzumieten. Sie mussten nach und nach in sogenannte Judenhäuser, einer Vorform der Ghettos, umziehen. Nach den Deportationen zu Beginn der Vierzigerjahre wurde das noch verbleibende jüdische Hauseigentum verstaatlicht. In Gebäuden, die sich ehemals im Besitz jüdischer Familien befunden hatten, residierten fortan Polizeidienststellen und Stabsstellen der Wehrmacht.
Auch jüdische Kulturschaffende und Wissenschaftler fielen dem Raubzug des NS-Regimes nach der Reichskristallnacht zum Opfer, etwa durch die Aberkennung akademischer Grade, Titel und Patente. Die ersten hierzu im Mai 1933 erlassenen Gesetze hatten noch auf eine schnelle Auswanderung möglichst vieler Juden abgezielt, möglichst ohne oder mit wenigem Eigentum, auf das der NS-Staat für seine mörderischen Pläne so dringend angewiesen war.
Mit der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938 war das Ziel der „Arisierung“ des öffentlichen Lebens weitgehend erreicht, indes die Diskriminierungen im Alltag kein Ende nahmen. Die verbliebenen Betriebe erhielten neue, nichtjüdische Eigentümer oder wurden im Handelsregister getilgt. Die Erlöse kassierte auch hier der Staat. Schmuck, Juwelen, Antiquitäten, Immobilien und Aktien mussten zu Preisen weit unter Marktwert verkauft werden oder fielen staatlichen Konfiszierungen zum Opfer. Für den jüdischen Eigentümer bedeutete das in aller Regel den Ruin. Jüdische Arbeitnehmer erhielten per Gesetz die Kündigung, Selbstständige unterlagen einem weitgehenden Berufsverbot.
Konzertierte Aktionen
Der größte Anteil geraubten, jüdischen Besitzes, der nach der Reichskristallnacht verloren ging, waren Immobilien. Derweil nichtjüdische Unternehmen ihren Betriebsgewinn mit der „Arisierung“ enorm steigern konnten. Auch staatliche Institutionen, wie Auktionshäuser und vor allem Museen, kamen in den Besitz wertvoller Gegenstände. Ab Mitte 1938 nahmen die so genannten „Arierparagraphen“ offiziell auch im wirtschaftlichen Bereich zu. Hinter den Kulissen des NS-Regimes war an der Ausschaltung der Juden aus allen Unternehmen lange gearbeitet worden. „Beschlagnahmtes, jüdisches Eigentum versteigerte der Staat ohne Scham an die lokale Bevölkerung“, beschreibt der Histotiker Götz Aly die an Skrupellosigkeit kaum zu überbietende Situation in seinem Buch „Hitlers Volksstaat“ (2005). Ort und Zeit der Versteigerung jüdischen Eigentums standen in der Lokalpresse. Die Bevölkerung erschien zu solchen Terminen oft in Scharen. Teilweise kam es bei der Gier nach „Schnäppchen“ zu Tumulten. Im Kölner Finanzamt etwa brach mehrfach der Dienstbetrieb zusammen, weil Bürger Flure und Amtsstuben belagert hielten. Gierig darauf erpicht, mit staatlicher Hehlerware, das „Geschäft ihres Lebens“ zu machen.
Die während der Judenpogrome vorgegebene Regierungslinie, fand im Krieg ihre systemkonforme Fortsetzung. Unter der Tarnbezeichnung „Aktion 3“ für in großem Stil durch geführte Massenversteigerungen gab das Reichsfinanzministerium Anfang November 1941 Anweisungen heraus, wie bei der Deportation deutscher Juden in die Konzentrationslager deren Vermögen einzuziehen sei. Hier war Teamwork gefragt. Enteignung und Verwertung erfolgten in enger Zusammenarbeit zwischen Finanzbeamten, Gestapo, Stadtverwaltungen, Hausverwaltern, Gerichtsvollziehern, Bankangestellten, Auktionatoren und Spediteuren. Allein die Einnahmen, die aus der Verwertung des in jüdischen Wohnungen zurückgelassenen Inventars stammten, werden auf mehrere Hundert Millionen Reichsmark beziffert.
In den Erinnerungskulturen West- und Ostdeutschlands erlebten der 9. November ebenso wie die Erinnerung an das „Dritte Reich“ unterschiedliche Bewertungen. Der politischen Führung der DDR ging es hauptsächlich um die Hervorhebung ihres antifaschistischen Widerstandskampfes, wobei die tatsächlichen Opfer ins Hintertreffen gerieten. In der Bundesrepublik hingegen war der Holocaust lange Zeit eher ein Randthema. In vielen deutschen Kleinstädten, etwa in Ahrweiler im Rheinland, verrotteten die Ruinen früherer Synagogen oder wurden, noch schlimmer, für weltliche Zwecke zweckentfremdet. Erst seit Ende der Sechzigerjahre befasste sich die westdeutsche Öffentlichkeit intensiver mit der Zeit des Nationalsozialismus, Fragen von Schuld, Sühne und Verantwortung. Statt des euphemistischen Begriffs „Reichskristallnacht“, der noch aus der NS-Zeit stammte, arbeiten Historiker heute lieber mit der ungeschminkten Bezeichnung „Reichspogromnacht“, da diese den Ereignissen am 9. November 1938 wesentlich näher kommt. Indes erlebte die einst stark beschädigte Synagoge in der Rotweinmetropole Ahrweiler, dank der Initiative eines evangelischen Pfarrers, eine Wiedergeburt. Heute beherbergt sie ein interkulturelles Kultur- und Begegnungszentrum.