„Hören Sie auf zu plappern!“

Recht philosophisch: Das juristische System im Spiegel der Diskursanalyse

Axel Weiß

herrenreiterNoch immer das hölzern pedantische Volk,
Noch immer ein rechter Winkel
In jeder Bewegung, und im Gesicht
Der eingefrorene Dünkel.

Sie stelzen noch immer so steif herum,
So kerzengrade geschniegelt,
Als hätten sie verschluckt den Stock,
Womit man sie einst geprügelt.

Heinrich Heine

 

Obwohl es mittlerweile über 10 Jahre her ist, erinnere ich mich noch sehr gut: Es war ein grauer Novembertag als ich, damals noch in der Ausbildung, einem deutsch-amerikanischen Juristenseminar beiwohnte. Gleich zu Beginn begann sich der Begrüßungsredner darüber zu wundern, warum die Juristenausbildung eigentlich so viele graue Mäuse produziere, die in ihren Examensnoten und Zusatzqualifikationen nicht voneinander zu unterscheiden seien und die man daher auch nicht einstellen könne. Dies sei quasi die juristische Malaise schlechthin, fügte er in forschem Ton noch an. Ich saß nicht weit entfernt im Publikum und nickte zustimmend. Und es gab wahrscheinlich kaum jemanden im Saal, der ihm widersprochen hätte – wenngleich die meisten der anwesenden Juristen für sich selbst gewiss eine Ausnahme reklamiert hätten.
Im weiteren Verlauf ging es dann darum, wie sich junge Juristen durch einen Auslandsaufenthalt zusätzlich weiter qualifizieren können, beispielsweise durch einen LLM in den USA oder eine Wahlstation in anglophonen Ländern. Zu den Ursachen der juristischen Massenkonfektionsware sagte der Redner allerdings nichts – hier hätte es aber interessant werden können, denn sie liegen eigentlich auf der Hand.
Denn jeder, der dieses System bis zum Ersten oder Zweiten Staatsexamen durchlaufen hat, kennt Anekdoten aus dem Studium oder aus Examensprüfungen, in denen Studenten bzw. Referendare angebrüllt, rhetorisch abserviert oder sonst entwürdigend behandelt wurden. Schlimmer noch: Viele haben Erniedrigungen am eigenen Leib erfahren müssen und Narben davongetragen, die oft lange Zeit nicht verheilen. Und die erst recht nicht artikuliert werden können, da man selbst mittlerweile Teil der Strukturen geworden ist. Der Anpassungsdruck ist vom ersten Augenblick an enorm, was später vielfach dazu führt, dass er klar hierarisch an die nächstuntere Ebene weitergegeben wird. Für die heißt es dann Suffer in silence. Man möchte ja schließlich irgendwann auch dazugehören. Für die Ausbildung eines kritischen Bewusstseins, das sich gegebenenfalls in einer umfassenden Systemkritik niederschlagen könnte, bleibt meist weder Zeit noch Muße. Irgendwie muss eine gute Examensnote her, damit man nicht zu den Parias im juristischen Kastenwesen gehört und eine depravierte Nischenexistenz fristen muss, für die sich allzeit der Spruch bewahrheitet: Du kommst hier nicht rein. Insgesamt überwiegt bei vielen deshalb die Angst. Und Angst ist Gift für die Persönlichkeitsentwicklung.

Ob gebrüllt oder geflüstert, es ist klar, dass die Rechtssprache per se eine Machtsprache ist, die einen gesellschaftlichen Herrschaftsanspruch artikuliert – auch artikulieren muss. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob es in den heiligen Hallen der Justiz nicht etwas gesitteter und vor allem egalitärer zugehen könnte, damit sich junge Menschen freier entfalten können. Es wird ja mittlerweile auch ein sogenannter „werteorientierter europäischer Jurist“ gefordert. Das hätte zudem den angenehmen Nebeneffekt, dass sich Juristenbiografien, die vom Phänotyp eher dem Modell „Deutscher Herrenreiter“ entsprechen, nicht bis zum St. Nimmerleinstag in ihrer vulgären Menschen- und Intellektfeindlichkeit perpetuieren können. Man trifft sie leider noch viel zu häufig an, und es täte wirklich Not, ihr Aussterben zu beschleunigen, denn eine historische Evidenz, dass sie ihre Roben irgendwann von selbst an den Nagel hängen, gibt es leider nicht.
Will man dem stillen Terror ihrer Sekundärtugenden entkommen, wird man es daher nicht bei freundlichen Ermahnungen belassen können. Stattdessen gibt es andere Werkzeuge. Die Diskurstheorie beispielsweise. Sie wurde im Wesentlichen von Michel Foucault begründet. Der Diskurs steht bei Foucault für eine Gruppe von Aussagen (z.B. Texte, Begriffe, Konzepte). Er legt Sprache und Denkweisen fest, die zu einer bestimmten Zeit zur Verfügung stehen. Diskurse bestimmen, wie über etwas gesprochen wird, oder auch nicht. Diskurse fungieren damit als Filter des Sagbaren und der Denkweisen, die methodisch durch Dekonstruktion offengelegt werden. Damit eröffnet sich die Möglichkeit zur intellektuellen Reflektion des gesamten Systems – und es bieten sich Chancen für grundlegende Veränderungen.
Diese tun Not, denn das juristische Ausbildungssystem hat sich seit Theodor Storms Zeiten, der bekanntlich Amtsrichter war, kaum verändert. Es diente in Preußen und später im Deutschen Reich dazu, eine konservative, staatshörige Verwaltungselite heranzubilden, die dem autoritären Machtanspruch des Monarchen und seiner Subalternen unmissverständlich Geltung verschaffte. Für Querdenker und Progressive war im preußischen System kein Platz – und das galt auch nach dem Ersten Weltkrieg bruchlos fort, da – anders als in Österreich – eine fortschrittliche Justizreform in der Weimarer Republik unterblieb. Wer hier nach Dokumenten sucht, die den nationalistisch-konservativen Geist der Zeit widerspiegeln, dem seien die juristischen Schriftsätze zum Harden-Prozess nachdrücklich als Lektüre empfohlen. Sie stehen quasi pars pro toto für das intellektuelle Klima im Rechtsdiskurs dieser Zeit. Was danach geschah ist bekannt und es ist vor diesem Hintergrund eigentlich auch nicht wirklich überraschend, dass sich die Justizelite so problemlos von den Nazis zu einer Horde von Paragrafenhündchen degradieren ließ, die brav die hingeworfenen Knochen apportierten und eifrig unter die Rassengesetze subsumierten. Der ohnehin repressiv-autoritäre Rechtsdiskurs hatte sich nur weiter radikalisiert – schließlich bis hin zum totalen ethischen Zusammenbruch.
Im Nachkriegsdeutschland, so könnte man meinen, ist die Chance zum Neuanfang umfassend genutzt worden. Schließlich leben wir heute in einer pluralistischen Demokratie, die jedermann Grundrechte auch als Abwehrrechte gegen den Staat zugesteht. Bei genauerem Hinsehen stellt sich allerdings deutlich heraus, wie hartleibig der alte autoritäre Rechtsdiskurs immer noch ist. Denn wie viele von den Holocaustverbrechern sind tatsächlich von der deutschen Nachkriegsjustiz verurteilt worden? Die Zahlen dokumentieren ein Trauerspiel, was gerade wieder aktuell in den Medien nachzulesen war. Will man hier perspektivische Veränderungen erreichen, wird man folglich nicht um eine grundlegende Justizreform herumkommen. Denn nur die inhaltliche und ethische Neuausrichtung des Rechtsdiskurses wird irgendwann vielleicht einmal in der Mehrzahl Juristen hervorbringen, die die Gelegenheit hatten, so etwas wie ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln und eine eigene Persönlichkeit auszubilden, die sich in Haltung artikulieren kann – selbst wenn es nur darum gehen sollte, eine Rechtskandidatin im Staatsexamen nicht despotisch anzuraunzen, dass sie aufhören solle zu plappern.
Da wir uns historisch gesehen nicht mehr im Pleistozän des Autokratismus befinden, sondern in der Moderne, muss der Weg der Dekonstruktion auch konsequent zu Ende gegangen werden. Die Abschaffung des Referendariats könnte den systemischen Bruch mit einer Traditionslinie einläuten, die letztlich nach Ausschwitz geführt hat, und Platz für humane, egalitäre Gedanken und Ideen schaffen, statt den fetischisierten Blick des Bürokraten auf Examenspunkte zu befeuern, deren faktische Aussagekraft angesichts der überfrachteten Prüfungsordnungen begrenzt ist. Es wird hohe Zeit, dass der gutmütige Gaul Justitia seine Herrenreiter abwirft.

Veröffentlicht von on Dez 15th, 2014 und gespeichert unter DRUM HERUM, RECHT PHILOSOPHISCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

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