Blutige Weihnacht

Vor 30 Jahren erschoss die Stasi im mecklenburgischen Güstrow zwei Passanten. Erst jetzt gedenkt die Stadt der Opfer mit einer Gedenktafel

Benedikt Vallendar

gustrow-1-gedenkplatteGüstrow – Es ist der 21. Dezember 1984. Drei junge Männer begeben sich im mecklenburgischen Güstrow nach einer Weihnachtsfeier zur Bushaltestelle. Nur wenige Jahre zuvor war Bundeskanzler Helmut Schmidt auf Einladung Erich Honeckers in der 30.000-Einwohnerstadt gewesen. Damals hatte die Stasi, das DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) die Innenstadt abgeriegelt, oppositionelle Bürger unter Druck gesetzt, Dutzende kurzfristig in „Schutzhaft“ genommen und aus allen Landesteilen systemnahe Jubelperser herangekarrt, um dem Bonner Regierungschef ein fröhlich Advent feierndes DDR-Volk zu präsentieren. Ein bizarres Polittheater, an das sich Delegationsteilnehmer und Journalisten noch heute mit Schaudern erinnern. Denn die Jubelnden waren ausschließlich Stasi-Mitarbeiter, wie Aktenfunde belegen.

Doch an diesem Dezembertag 1984, kurz vor Heilig Abend, geschieht in Güstrow das Unfassbare: Die jungen Männer wollen gegen 23.00 Uhr mit dem letzten Bus nach Hause fahren. Ihr Weg führt an der Kreisdienststelle der Staatssicherheit in der heutigen Neukruger Straße vorbei. Was dann passiert, ist bis heute nicht in allen Einzelheiten geklärt, konnte im Nachhinein nur durch Zeugenaussagen rekonstruiert werden. Einer der jungen Männer kommt auf die Idee, die Mauerumzäunung des Stasigebäudes zu besteigen. Dabei treffen sie auf den angetrunkenen Wachmann Werner Funk, der im Dienst gerade seinen sechzigsten Geburtstag nachgefeiert hat. Funk ist in Güstrow ein stadtbekannter Trunkenbold. In der Kaufhalle besorgte er sich seinen Schnaps gerne einkaufstaschenweise, berichtet später eine Zeitzeugin. Dass er bei der Stasi war, wussten in Güstrow viele. Denn Funk schob vor der Kreisdienststelle regelmäßig Wache und war dafür bekannt, Passanten zu drangsalieren, indem er grundlos deren Ausweispapiere verlangte und sich herrisch aufführte, wie Zeugen später aussagten.
Als der Unterleutnant außerhalb des Stasi-Geländes die Ausweise der drei jungen Männer einsehen will, kommt es zu einer Rangelei. Plötzlich zückt der Wachmann seine Dienstwaffe und feuert aus Nahdistanz los. Zuerst schießt er Frank Nietsch in den Oberschenkel, dann Uwe Siatkowski in die Lunge und zuletzt Wolf-Dieter Runge in den Unterleib. Der Schütze selbst schleppt sich auf allen Vieren, verletzt am Fußknöchel, die etwa dreißig Meter in das Stasiobjekt zurück. Das einzig überlebende Opfer, Frank Nietsch, gelernter Schlosser, muss seither mit einem verkürzten Bein leben. Heute wohnt er mit seiner hochbetagten Mutter in Sichtweite des Tatorts, an dem sich noch immer eine Bushaltestelle befindet.

Verschleierungstaktik der SED

Den 21. Dezember 1984 werde er wohl nie vergessen, sagt Nietsch. Kurz nach dem Verbrechen verstreichen überlebenswichtige Minuten, bis endlich zwei Krankenwagen eintreffen. Den Sanitätern bietet sich ein Bild des Grauens. Die Opfer liegen stöhnend in ihren Blutlachen. Uwe Siatkowski, verheiratet und Vater zweier Kinder, verstirbt noch vor Ort. Wolf-Dieter Runge, ebenfalls verheiratet und dreifacher Vater, trotz sofortiger Operation, drei Tage später.  Die Staatssicherheit versucht alles, um den Vorfall herunterzuspielen. »Betrunkene Raufbolde« hätten auf das Gelände der Kreisdienststelle eindringen wollen und dabei den Wachmann angriffen, der in »Notwehr« gehandelt habe, schreibt wenige Tage später die örtliche Presse, die wie alle Medien in der DDR, von der SED gesteuert wird.

Schnell kommt auch die Militäroberstaatsanwaltschaft auf den Plan und zaubert im Handumdrehen eine Legende über den Tathergang aus dem Hut. Sie  wird den Angehörigen aufgetischt, um den wahren Hergang der Ereignisse zu verschleiern und Werner Funk aus der Schusslinie zu nehmen. Der Stasi-Mann kommt zwar für kurze Zeit in Untersuchungshaft, muss sich aber nie vor einem DDR-Gericht verantworten. Erst nach der friedlichen Revolution im Herbst 1989 wird Unterleutnant Werner Funk zur Rechenschaft gezogen und vom Berliner Landgericht zu zehn Jahren Haft verurteilt, von denen er sieben absitzen muss.

Auf dem linken Auge blind?

Dass es überhaupt zur Verurteilung des Täters kam, verdanken die Angehörigen dem evangelischen Pfarrer und Bürgerrechtler Heiko Lietz (71). Lietz nutzte im Wendeherbst 1989 über den Runden Tisch in Berlin seine Kontakte ins DDR-Innenministerium, um den Täter dingfest zu machen. Was binnen Tagen gelang und Funk in Untersuchungshaft kam.

Sechs Jahre zuvor hatte der Pfarrer für seine Zivilcourage noch einen hohen Preis zahlen müssen, denn er geriet selbst ins Visier der Stasi. Und ließ sich dennoch nicht beirren. Als Seelsorger besuchte Lietz im Dezember 1984 die hinterbliebenen Witwen und nahm auch an den Trauerfeiern auf dem Güstrower Friedhof teil. „Der Friedhof war voll mit Stasi-Leuten“, erinnert sich Lietz. Als er am 2. Januar 1985 in der Güstrower Pfarrkirche bei einem Friedensgebet der Opfer und Angehörigen gedenkt, handelt sich der Geistliche ein viertägiges Verhör ein. Mehrfach holt ihn die Stasi ab, sucht ihn sogar am Arbeitsplatz auf. Und nicht nur ihn. Viele Güstrower bekommen es in den darauffolgenden Wochen mit dem Geheimdienst zu tun. „Nach dem furchtbaren Geschehen war die Stadt wie gelähmt. Die Gerüchteküche brodelte“, erinnert sich Lietz. Doch der Pfarrer hatte noch im Krankenhaus mit einem der Überlebenden sprechen können und so den wahren Tathergang erfahren.

Fünf Jahre nach dem Verbrechen war Deutschland wiedervereint. Vielerorts ging die Politik zur Tagesordnung über. Und nicht selten überließ sie die Verfolgung von SED-Tätern der Justiz, die auf dem linken Auge blind zu sein schien, was sich allein schon an dem relativ milden Urteil gegen Werner Funk ablesen ließ, der immerhin zwei Menschen auf dem Gewissen hatte. Und schon nach sieben Jahren wieder ein freier Mann war.

Auch in Güstrow schienen zunächst andere Dinge wichtiger zu sein, als das dunkle Stasi-Kapitel. Und so musste fast ein viertel Jahrhundert ins Land gehen, bis sich auch die Stadtoberen dazu durchrangen, der Opfer des DDR-Unrechts zu gedenken: Nach langen und teils kontroversen Debatten wird nun am 21. Dezember 2014 vor der ehemaligen Kreisdienststelle eine von der Stadt gestiftete und im Boden eingelassene Steinplatte enthüllt. Besonders wichtig soll es den Stadtvertretern gewesen sein, dass der beauftragte Künstler, ein Steinmetz, seinen Hauptwohnsitz in Güstrow hat, damit wenigstens ein Teil der Ausgaben für die Platte als Gewerbesteuer in den städtischen Haushalt zurückfließt…

Veröffentlicht von on Dez. 22nd, 2014 und gespeichert unter DRUM HERUM, RECHT HISTORISCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

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