Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
ich weiß noch genau, wie das damals anfing mit der Digitalisierung, zu meiner Zeit in den Neunzigern im Jurastudium. Eines Tages gingen einige meiner Freunde nach dem Mensa-Essen in den Computerraum, um zu e-mailen, wie sie sagten. Ich hatte keine Vorstellung davon, was das sein sollte. Sie erklärten mir, ich könne das auch machen. Ich müsste mir einfach nur im Studentenbüro ein Passwort holen und eine E-Mail-Adresse einrichten lassen, das würde nichts kosten. Dann könnte ich Leuten an anderen Orten, die auch eine E-Mail-Adresse hätten, am Computer Briefe schreiben, und sie könnten diese schon gleich nach dem Abschicken lesen. Zum Beispiel würden sie dem E., der zum Auslandssemester in Frankreich sei, schreiben, was sie gerade so machten, und der E. würde ihnen auch zurückschreiben, was er gerade so mache. Das sei doch eine tolle Sache. Mir war allerdings nicht ganz klar, worin da der Nutzen liegen sollte. Man könne sich doch, so meinte ich, einfach wie bisher Briefe mit der Post schicken, die habe man dann bequem bei sich zu Hause im Briefkasten und müsse nicht umständlich jedes Mal in den Computerraum in der Uni laufen, um nachzusehen, ob einem jemand geschrieben hat. Und in dringenden Fällen könne man sich doch einfach anrufen. Also wozu das ganze? Folglich ließ ich mir nie an der Uni eine E-Mail-Adresse einrichten. Erst Jahre später im Referendariat, als ich schon meinen ersten internetfähigen Computer zu Hause hatte, gab mir jemand den Tipp mit gmx und erzählte mir, dass man bei Ebay günstig Bücher und CDs ersteigern könne. Da wurde dann selbst ich hellhörig.
Wahrscheinlich war ich bereits damals so etwas wie ein Fortschrittsskeptiker. Und doch stand ich dem Internet als solchem schon frühzeitig recht aufgeschlossen gegenüber. Ich hatte nämlich entdeckt, dass man im Internet Fußballberichte über unterklassige Mannschaften finden konnte, die in keiner Zeitung standen, was mich brennend interessierte. Das Problem war allerdings, dass es in der Uni-Bibliothek zunächst nur drei internetfähige Computer gab, und das Tempo, mit dem man damals so durchs Netz surfte, war noch ziemlich langsam. Eines Abends gegen 19.30 Uhr betrat ich die Bibliothek und sah zu meiner Freude, dass einer der Internet-Arbeitsplätze gerade frei war. Ich setzte mich also hin und suchte nach der Fußballmannschaft meiner Heimatstadt. Wenige Minuten später war ich in den aktuellen Tabellenstand der Landesliga Mecklenburg-Vorpommern vertieft, als ich plötzlich direkt hinter mir ein lautes Wutgeheul hörte. Mit Entsetzen registrierte ich, dass niemand anders als ich der Adressat sein musste. „Ja, was machen SIE denn hier???“, brüllte ein grauhaariger älterer Herr durch die Stille der Bibliothek. Zufällig wusste ich, dass er ein Soziologie-Professor war. Alle drehten sich nach mir um, ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Ich murmelte etwas von „Tschuldigung, bin ja schon fertig…“ und räumte so schnell ich konnte den Stuhl. Doch der Soziologe konnte sich gar nicht wieder beruhigen. Er brüllte weiter: „Was machen SIE denn da??? ICH muss hier arbeiten und SIE sehen sich FUSSBALL an??? Ja, das DARF DOCH WOHL NICHT WAHR SEIN!!!“ Er war dunkelrot angelaufen und wurde immer lauter. In diesem Moment schoss mir durch den Kopf, dass es doch immerhin denkbar wäre, dass ich im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit ein Fußballthema bearbeitete und hierzu etwas recherchieren musste. Doch es erschien mir angesichts der Situation dann doch ratsamer, umgehend das Weite zu suchen. Bloß weg hier, dachte ich. Am nächsten Tag hingen hinter den drei internetfähigen Computern Zettel mit dem Aufdruck: „An den Internet-Arbeitsplätzen haben wissenschaftliche Sucharbeiten Vorrang vor privaten Recherchen!“ Mein Gott, was hatte ich da bloß angerichtet.
Heute, zwei Jahrzehnte später, sehe ich das etwas anders. Man müsste, so denke ich mir, aus solchen aufgeblasenen Professoren und sonstigen Wichtigtuern einfach mal die Luft rauslassen. Er hätte mir ja auch einfach ruhig sagen können, dass er etwas Dringendes nachsehen muss, und schon hätte ich ihm Platz gemacht. Soziologie ist doch nun wirklich ein interessantes Fach. Soll er doch froh sein, dass er das Glück hat, da eine Professur abbekommen zu haben, während sich andere ihr Leben lang mit langweiligen Dingen beschäftigen müssen. Und überhaupt wäre auch ein bisschen Dankbarkeit dafür angebracht, dass die Steuerzahler ihm ein Professorengehalt finanzieren, während beispielsweise eine solche Nebensache wie Fußball aus sich heraus millionenschwere Einnahmen generiert, wenn auch, zugegebenermaßen, nicht gerade bei den Kleinstadtkickern, die mich besonders interessieren. Man könnte sogar, nur leicht zugespitzt, sagen, dass nicht zuletzt dank der Steuermillionen, die die Unterhaltungsindustrie und nicht zuletzt das Fußballbusiness alljährlich an den Staat abführen, eine Menge Lehrstühle an unseren Universitäten, auch Soziologie-Lehrstühle, bisher noch nicht dem Rotstift zum Opfer gefallen sind, auch wenn es sich hier um unterschiedliche Töpfe handeln mag… Na egal, heute liegen zumindest solche Konflikte um die heißbegehrte neue Technik weit hinter uns, und es war ja auch nur eine kurze Phase, in der es sie gab. Aber mir jedenfalls bleibt die digitale Steinzeit unvergesslich.
Dein Johannes