Die Bundesregierung plant eine Verschärfung des Sexualstrafrechts – wovon die Opfer jedoch nur wenig profitieren dürften, wie Praxisbeispiele zeigen
Benedikt Vallendar
Gelegenheit macht Triebe. Und hat schon in vielen Fällen zu grausamen Verbrechen geführt. Bei denen Frauen, und teilweise auch Männer, Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. Die von der Bundesregierung geplanten Verschärfungen im Sexualstrafrecht zielen darauf ab, künftig auch die Ausnutzung des Überraschungsmoments, bei dem sich das Opfer, oft gelähmt vor Angst, nicht körperlich zur Wehr setzen konnte, unter Strafe zu stellen. Hingegen soll ein bloßes „Nein“ des Opfers, wie ursprünglich geplant, auch künftig nicht für eine Verurteilung ausreichen. Ob die geplanten Maßnahmen potentielle Täter abschrecken, bleibt jedoch fraglich. Mit Vorkommnissen wie in der Kölner Sylvesternacht, bei der die Polizei Hunderte Anzeigen unter anderem wegen sexueller Nötigung ereilte, wird allem Anschein nach weiter zu rechnen sein.
Hohe Schamgrenze
Das Problem: Auch in Zukunft wird es dem Opfer nicht erspart bleiben, vor Gericht in öffentlicher Sitzung sämtliche Details des Übergriffs zu schildern. Ein weiteres Problem: Ein Ausschluss der Öffentlichkeit hängt oft vom Wohlwollen des Vorsitzenden Richters ab, wissen Opferanwälte nur zu gut. Mit der Folge, dass in der Praxis viele, eigentlich angesagte Verurteilungen wegen Vergewaltigung ausbleiben. Was auch damit zusammenhängen dürfte, dass sich nicht wenige Opfer genieren, vor Gericht die Einzelheiten der Vorkommnisse zu schildern; und selbst Richter oft lieber mit vagen Umschreibungen operieren, wenn es um Dinge geht, die „da unten“ passiert sind, anstatt das Kind beim Namen zu nennen.
Rückzieher in der Hauptverhandlung
Nach Recherchen der Tageszeitung „Die Welt“ enden nur zehn Prozent aller Anzeigen mit einer Verurteilung, indes Anwälte, vor allem Strafverteidiger bei Sexualdelikten mitunter andere Erfahrungen machen. Und im Schnitt etwa die Hälfte ihrer Mandanten am Ende verurteilt sehen. Dass eine große Anzahl von Anzeigen im Sande verläuft, dürfte auch daran liegen, dass sich Opfer oft erst spät trauen, den Täter anzuzeigen. Also dann, wenn Beweise für die Tat nicht mehr greifbar sind oder die Erinnerung an das Geschehene verschwommen ist. „Manche Opfer sind so traumatisiert, dass sie erst nach Monaten oder Jahren realisieren, was ihnen da eigentlich geschehen ist und Anzeige erstatten“, sagt Matthias Lammel, forensischer Psychiater in Berlin, der beruflich auch mit Missbrauchsopfern zu tun hat. Hinzu kommt, dass Straftaten oft verjährt sind. Und das Opfer mit seinen Problemen allein bleibt. Die überwiegende Zahl aller Sexualstraftaten wird übrigens im weiteren sozialen Umfeld des Opfers begangen, wissen Experten schon lange. Der spontan in einer dunklen Tiefgarage losschlagende Vergewaltiger ist die große Ausnahme. Auch wenn Medien mitunter einen anderen Eindruck vermitteln.
Auch der Münchner Anwalt Alexander Stevens, Fachanwalt für Strafrecht und spezialisiert auf Sexualdelikte, kann davon ein Lied singen. In seinem kürzlich veröffentlichten Buch „Sex vor Gericht“ (Knaur Verlag 2016) schildert Stevens Fälle, die sich fast immer im Graubereich zwischen Angst, Scham und Scheinheiligkeit bewegen. Und damit allen Beteiligten, auch den Verteidigern, ein hohes Maß an Sensibilität abverlangen. „In manchen Fällen fühlt sich das Opfer von der eigenen Familie unter Druck gesetzt und ‚überlegt‘ sich seine zuvor bei der Polizei gemachte Aussage noch einmal“, sagt Stevens; manchmal auch, weil die Frau ihrem Mann das Angetane zwischenzeitlich verziehen hat. All diese Faktoren erschweren die Tatrekonstruktion in der Hauptverhandlung, wo am Ende vieles im Nebulösen bleibt.
Im Fokus der Öffentlichkeit
Besonders bei Übergriffen unter Häftlingen in Gefängnissen trauen sich Betroffene nur selten, vor Gericht auszusagen. Wohl wissend, dass sie sich damit in der Haftanstalt und selbst bei Bediensteten keine Freunde machen. „Bei den einen gilt der vor Gericht Aussagende als Verräter, bei den anderen als Nestbeschmutzer“, sagt Stevens, für den solche Fälle oft eine Gratwanderung sind. Denn auch Richter und Staatsanwälte müssen damit rechnen, dass da jemand vor ihnen steht, an dem sich das Opfer nur rächen möchte. Aus welchen Gründen auch immer.
Hinzu kommt, dass Gerichte bei Vergewaltigungsdelikten unter hohem Erwartungsdruck stehen, den oder die Täter zu bestrafen. Und Richter oft voreingenommen sind, wenn der Angeklagte in Handschellen in den Gerichtssaal geführt wird, wie es Anwalt Stevens immer wieder erlebt. Viele Richter beginnen ihre Vernehmung mit den Worten „Es tut mir leid, dass Sie das jetzt hier alles noch einmal genau schildern müssen…“, was den Angeklagten vorverurteilt, obgleich bis zu einem rechtskräftigen Urteil die Unschuldsvermutung gilt. Was in der Praxis jedoch häufig zur Farce wird.
Erfundene Vergewaltigung
Und dennoch: Spätestens seit dem Justizirrtum um den ehemaligen Lehrer Horst Arnold aus Hessen, der fünf Jahre unschuldig wegen angeblicher Vergewaltigung in Haft saß, ist auch die Justiz hellhörig geworden – und vorsichtig. Das vermeintliche Opfer im Fall Arnold, eine ehemalige Kollegin an seiner Schule, sitzt zurzeit eine mehrjährige Haftstrafe wegen schwerer Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft ab. Nur durch Zufall und ausgerechnet durch die Frauenbeauftragte an Arnolds früherer Schule war herausgekommen, dass die vermeintliche Vergewaltigung frei erfunden war, wie auch ein Gericht später feststellte und das Fehlurteil gegen den Lehrer aufhob. Auf eine Wiedereinstellung in den Schuldienst oder Entschädigung wartete Horst Arnold bis zu seinem plötzlichen Herztod im Sommer 2012 jedoch vergeblich. Nach seiner Haftentlassung hatte er jahrelang von Sozialleistungen gelebt.