Sünde

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

die Sünde ist kein juristischer Begriff. Nirgendwo im Strafgesetzbuch steht geschrieben, dass es verboten wäre zu sündigen. Zwar dürfte wohl jemand, der Straftaten begeht, in den allermeisten Fällen auch in moralischer Hinsicht ein Sünder sein (egal welche Maßstäbe man hierfür anlegt), doch gilt dies keineswegs umgekehrt. Pizza, Pommes frites oder Eis in sich hineinstopfen, Komasaufen oder Rauchen, na und? All dies sind ganz legale Sünden. Es bleibt jedem selbst überlassen, sie zu begehen oder auch nicht. Niemandem drohen allein deshalb irgendwelche Sanktionen.

Dass sich dieses altertümliche Wort „Sünde“ in unserer Sprache überhaupt bis heute erhalten hat, liegt wohl auch daran, dass unsere durchregulierte und verrechtlichte Welt nach wie vor das Bedürfnis hat, juristisch unbedenkliches, aber moralisch fragwürdiges Verhalten beim Namen zu nennen. Doch wie böse ist es denn nun eigentlich, Sünden zu begehen? Gar nicht schlimm, könnte man meinen, solange durch ihre Begehung nur man selbst und kein anderer geschädigt wird. Doch schaut man genauer hin, dann bleiben gar nicht mehr so viele wirklich harmlose Sünden übrig. Wer ungesund lebt, wer keinen Sport treibt und sich unausgewogen ernährt, belastet so auf lange Sicht nicht unerheblich die Solidargemeinschaft der Versicherten in seiner Krankenkasse. Wer Lebensmittel wegwirft, schädigt dadurch vielleicht niemanden direkt und tut dennoch etwas moralisch zutiefst Verwerfliches, denkt man auch nur einen Moment lang an die hungerleidenden Menschen in anderen Teilen der Welt. Noch viel bedenklicher sind all die Umwelt- und Klimasünden, die wir (fast) alle täglich en masse begehen: Durch unsere Mobilitätssysteme, insbesondere durch die in erschreckender Weise ausufernde Vielfliegerei, verstärken wir direkt und ganz massiv die Erderwärmung und sorgen so für künftige und mittlerweile auch schon gegenwärtige Überschwemmungen, Dürren und Hungerkatastrophen. Leicht zugespitzt könnte man sagen: Wir bringen dadurch Menschen um. Wohl keiner außer dem Blödmann im Weißen Haus würde dies ernsthaft bestreiten. Nur auf den ersten Blick leichter wiegen stilistische Sünden oder Bausünden. Immerhin gibt es zu ihrer Kenntlichmachung schlechterdings keine objektiven Maßstäbe. Doch wird, was empfindsame Menschen durch den Anblick von architektonischer oder modischer Hässlichkeit erleiden müssen, gemeinhin sträflich unterschätzt.

Als weniger schwerwiegend erscheinen hingegen solche Sünden, die zwar auf das Umfeld des Sünders eine durchaus ungünstige Wirkung haben können, die aber, da sie so weit verbreitetet und vergleichsweise harmlos sind, doch allgemein als verzeihlich angesehen werden: Angeberei zum Beispiel, Überheblichkeit, Neid und Missgunst oder auch jede andere Art von zwischenmenschlicher Gehässigkeit. Weitaus kritischer beurteilt, obwohl ebenfalls weit verbreitet, wird die Habgier, wenn auch immer nur die der Reichen. Auch der mit ihr verwandte Geiz hat einen notorisch schlechten Ruf, obwohl er zumeist mit der vielfach geschätzten Tugend der Sparsamkeit einhergeht. Eine sehr dehnbare und folglich oft nur schwer greifbare Sünde ist ferner das Belügen seiner Mitmenschen, denn das alltäglich und fast überall wuchernde Geflecht aus Notlügen, Ausflüchten, Halb- und Dreiviertelwahrheiten sowie bloßem Verschweigen ist zumeist schier undurchdringlich. Dagegen gelten Zorn und Trägheit, die sich von alters her im kirchlichen Katalog der Todsünden befinden, heute wohl nur noch als bloße Temperamentsfrage.

Apropos: Eine ganz genaue Vorstellung von Sünde haben traditionell die Religionen. Gleich für mehrere ist es die Todsünde schlechthin, noch andere Götter neben dem angeblich einen wahren anzubeten, mitunter wird der Abfall vom einzig wahren Glauben sogar mit ewiger Verdammnis oder – was ist schlimmer? – mit dem Tod bedroht. Als besonders sündig haben die meisten Religionen schließlich die Sphäre des Sexuellen (die „Wollust“) ausgemacht, wobei die nach heutigen Maßstäben justiziablen Handlungen auf diesem Gebiet – Stichwort „Me Too“ – hier bemerkenswerterweise gar keine große Rolle spielen. Dafür wird ironischerweise als äußerst schwerwiegende Sünde angesehen, was heute – aus medizinischer und psychologischer Sicht – sogar als überaus gesund für Körper und Seele gilt, solange man es damit nicht übertreibt…

Kurzum, wie immer man es auch betrachtet: Die Sünde ist aus unserem Leben einfach nicht wegzukriegen. Ob aus aufgeklärt-vernünftiger oder aus traditionell-religiöser Sicht wird letztlich wohl beinahe jedem von uns aufgrund seines individuellen Sündenkatalogs am Lebensende die Höchststrafe drohen: der Gang in die Hölle. Doch muss dies kein Unglück sein. Wie sagte Mark Twain (1835-1910) so treffend: „Wem es auf gute Luft ankommt, der mag in den Himmel gehen. Wer aber gute Gesellschaft schätzt, der geht lieber in die Hölle.“

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Nov. 5th, 2018 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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