Alt-BVerfG-Präsident Papier hat ein sehr zeitgemäßes Buch geschrieben
Matthias Wiemers
Es ist ein zorniger älterer Herr, der uns vom Buchcover anblickt. Nicht jeder weiß, dass der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, Jg. 1943, ein gebürtiger Berliner ist, denen man ja gelegentlich nachsagt, besonders gut sauer sein zu können. Papier, der bis 2010 Präsident des BVerfG war und Emeritus an der Münchner Ludwigs-Maximilians-Universität ist, hat zum ersten Mal ein Buch in einem Publikumsverlag veröffentlicht das sich an ein breites Publikum wendet. Worum es ihm dabei geht, lässt sich zunächst dem Titel und den beiden Untertiteln entnehmen.
Es geht um eine Warnung an alle Bürger, das Recht zu beachten und nicht zu ignorieren, wie es schon in der Einleitung angedeutet wird. Ein Großteil der Verantwortung wird sodann im ersten Kapitel („Ist das Recht nur was für Dumme?“) sogleich den Politikern zugeschrieben, die mit dem Regieren an der Verfassung vorbei an dem Ast sägten, auf dem sie selbst sitzen (S. 14). Aber dem folgt drei Seiten später sogleich die Warnung vor Überregulierung. Papier wörtlich: „Wenn der Staat sich anschickt, seinen Bürgerinnen und Bürgern jedwedes Lebensrisiko abzunehmen, dann wird er selbst zum Risiko, denn das führt letztlich in einen Überwachungs- und Präventionsstaat.“ Und im Kontext der Terrorgefahr verdeutlicht der Autor, gerade aufgrund des Umstands, dass die Regeln des Rechtsstaats auch für seine Gegner gelten, zeige sich seine Kraft (S. 18).
Im zweiten Kapitel geht es um das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit zueinander („Der Wert der Freiheit: oft unverstanden und missachtet“), worin sich Papier – auf der Linie seiner eigenen Rechtsprechung zur Verfassungswidrigkeit des Luftsicherheitsgesetzes – im Ergebnis im Zweifel für die Freiheit ausspricht. Den Tendenzen der jüngsten Polizeigesetzgebung in den Ländern hin zu einer Vorverlagerung der Eingriffsschwelle durch die Einführung des Tatbestandsmerkmals der „drohenden Gefahr“ lehnt er scharf ab (S. 25 f) und betont auch, die Polizei sei kein Nachrichtendienst (S. 27 ff). Zwar wird auch die staatliche Schutzpflicht dargestellt, aber auch deren Grenzen klar aufgezeigt und der Kernbereich der Privatheit verteidigt. Aber Papier betont auch, Bürgerinnen und Bürger müßten auch „den Willen zur Freiheit haben“ (S. 43).
Im dritten Kapitel geht es um die Frage, ob der Rechtsstaat kapituliert, was an einigen Beispielen erläutert wird. Mit aller Deutlichkeit werden darin die politischen Reaktionen auf die massenhafte Zuwanderung aus Nordafrika als „klare Kapitulation des Rechtsstaats“ bezeichnet (S. 47), was näher ausgeführt wird. So könnten „subjektive und individuelle Vorstellungen von Solidarität und Hilfsbereitschaft könn(t)en nicht an die Stelle des Gesetzes treten.“ Deutlich spricht sich Papier dafür aus, Personen, die offensichtlich keinen Asylanspruch haben, gar nicht erst nach Deutschland einreisen zu lassen. Denn Abschiebung wird als schwierig angesehen; eine verfehlte Einreise- und Zuwanderungspolitik könne in einem Rechtsstaat nicht durch rigorose Abschiebungen korrigiert werden (S. 58). Papier macht sich für ein Einwanderungsgesetz stark und begrüßt das „Fachkräfteeinreisegesetz“ als einen „begrüßenswerten ersten Schritt in diese Richtung“ (S. 63).
Die europäische Reaktion auf die Zuwanderung von Flüchtlingen und Migranten sei „weitgehend von politischer Willkür und Hilfslosigkeit geprägt“ (S. 64) und: „Das wohlhabende Deutschland manövrierte sich durch die Unentschlossenheit der politisch Handelnden in die Position, nahezu das einzige Zielland der Migration zu werden“ (S. 66).
Von legalen Einwanderern erwartet der Autor eine hohe Integrationsbereitschaft (S. 73). Wenn Hans-Jürgen Papier, der CSU-Mitglied ist (er widerspricht übrigens an zwei Stellen deutlich seinem „Parteifreund“ Hans-Peter Uhl), bislang eher als konservativ eingeschätzt wurde, so dürfte spätestens auf Seite 75 des Buches klar werden, dass sein Liberalismus überwiegt: „Unsere Leitkultur ist die Vielfalt“ lautet die Zwischenüberschrift auf dieser Seite, und der Autor führt aus, die Werteordnung des Grundgesetzes sei nicht durch Homogenität, sondern durch Pluralität und Heterogenität gekennzeichnet. Die leichte Relativierung dieser Aussage erfolgt in Form eines indirekten Zitats von Ernst-Wolfgang Böckenförde, der von einem gewissen Maß an Homogenität an Sprache, Kultur gesprochen habe. (Den Begriff der „Wertanschauung“, der hier ebenfalls zitiert wird, gibt es freilich nicht.)
Kapitel vier ist dem Thema der Selbstjustiz gewidmet, wo zu Beginn nochmals auf die Flüchtlingskrise als einer „Bankrotterklärung des Rechtsstaats“ rekurriert wird. Hier geht es um Clankriminalität und Parallelgesellschaften, aber etwa auch um Greta Thunberg und die mangelhafte Durchsetzung der Schulpflicht an Freitagen.
Kapitel fünf ist der globalen Digitalisierung als grenzenloser Herausforderung gewidmet. Hier wird nochmals das Volkszählungsurteil des BVerfG aus dem Jahre 1983 als Meilenstein in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts bezeichnet. Zentral setzt sich Papier hier auch mit dem Netzwerksdurchsetzungsgesetz auseinander und zitiert nicht nur seine Kritiker, sondern stellt auch selbst fest, faktisch laufe das Gesetz „aber auf eine für die Demokratie besonders zentrale Grundrechte hinaus – und zwar von privater Seite und selbst dann, wenn nach den Maßstäben des Verfassungsrechts die konkrete Meinungsäußerung gar nicht rechtswidrig, sondern schützenswert ist“ (S. 124).
Der Ausgleich zwischen kollidierenden Grundrechtspositionen müssten Gesetzgeber und Gerichte vornehmen, und dies könne nicht Privaten oder gar einer Software überlassen werden (S. 127).
Eindeutig positiv wird gewertet, dass die europäische Datenschutz-Grundverordnung „ihre Anforderungen auf sämtliche Unternehmen erstreckt, die in der Union Waren und Dienstleistungen anbieten (S. 133).
Die Entwicklung zur Datenökonomie sieht Papier kritisch und schreibt: „Hier hat der Rechtsstaat leichtfertig und fahrlässig eine Entwicklung geschehen lassen, die sich nur schwer rückgängig machen oder korrigieren ließe, wenn man nachträglich Verbesserungsmaßnahmen zum Schutz der Privatsphäre ergreifen wollte“ (S. 135).
Im sechsten Kapitel erkennt Papier „Politik und Verfassung: Auf Kollisionskurs“ und fordert „Rechtskenntnis statt Politik“ (S. 145). In diesem Kontext wird u. a. die Entwicklung der Auslandseinsätze der Bundeswehr mit ihrer mitunter zweifelhaften verfassungsrechtlichen Grundlage geschildert und im zweifel eine Änderung des Grundgesetzes gefordert. Die Uminterpretierung des Ehebegriffs im Grundgesetz wird kritisiert und das Fehlen einer Rechtsgrundlage für den Solidaritätszuschlag festgestellt. Aber auch Themen wie „cum-ex“ und „Dieselskandal“ werden behandelt und die „Digitalisierung aller Lebensbereiche“ dahingehend kritisiert, dass die repräsentative Demokratie immer noch das Staatsmodell mit den besten Chancen für die Menschen auf die Gestaltung ihrer Lebensbedingungen Einfluss zu nehmen (S. 226).
Der Band gipfelt im achten Kapitel in dem schon im Titel enthaltenen Aufruf zu „Mehr Rechtsbewusstsein!“ Darin stellt Papier freilich auch fest, dass das Demokratieprinzip im Grundgesetz eine totale Verrechtlichung der Politik verbiete (S. 236) und setzt sich auf der anderen Seite aber für die Einfügung des Nachhaltigkeitsprinzips im Grundgesetz ein – freilich nicht, wie von vielen gefordert, in Form eines neuen Artikel 20 b GG, sondern als Ergänzung des Artikels 20, direkt beim Demokratieprinzip (S. 239). Papier reiht sich zum Schluss in die Phalanx der deutschen Staatsrechtslehrer ein, die kürzlich eine Änderung des Wahlrechts gefordert haben, um der „Aufblähung“ des Bundestags entgegenzuwirken (S. 254).
Ausgezeichnet auch die Kritik an der immer weiter zunehmenden Finanzierung von Landes- und kommunaler Aufgaben durch den Bund, insbesondere im Bereich der Digitalisierung der Verwaltung. Papier wörtlich: „Wer dem weiteren Verfall der eigenstaatlichen Souveränität der Bundesländer, einschließlich des Selbstverwaltungsrechts der Kommunen, das Wort redet, nimmt einen weiteren Verlust an vitaler Selbstbestimmung des Volkes in Kauf.“ Und weiter: Mit der föderalen Ordnung ist auch die rechtsstaatlich so bedeutsame Gewaltenteilung verbunden. Es erscheint mir ziemlich leichtfertig, diesen Zusammenhang auf dem Altar einer unbewiesenen Steigerung von staatlicher Effizienz durch weitere Zentralisierung zu opfern“ (S. 257).
Papier versteht sein Buch als „eine Warnung, den Rechtsstaat mit Füßen zu treten, und die Aufforderung, ihn mit allen Kräften zu verteidigen“ (S. 259). Der Leser müsse hierfür nicht Jurist werden; hiervon gebe es bereits genügend in Deutschland (S. 260).
Der Linie des Buches kann man nur zustimmen – und vor allem seinem Anliegen. Denn in einem Staat, dessen geltendes Verfassungsgesetz gerade vor der Folie einer pervertierten Verfassungsordnung unter dem Nationalsozialismus entstanden ist, ist es immer wieder angezeigt, an die Durchsetzung des Rechts und damit der Abkehr von der Willkür zu erinnern. Dies gilt gerade auch, wenn man bedenkt, dass der persönliche Vorteil oftmals rücksichtslos verfolgt und nicht zuletzt Juristen als „Bürokraten“ verunglimpft werden. Der Autor hat nicht zuletzt mit den auch von ihm eingestreuten Vorschlägen zu Änderungen des Verfassungstextes gezeigt, dass ein Jurist niemals ein reiner Bürokrat sein kann. Die Lektüre Papiers ist gerade zum Weihnachtsfest nicht nur Juristen zu empfehlen.
Hans-Jürgen Papier, Die Warnung. Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird. Deutschlands höchster Richter a. D. klagt an, Heyne Verlag, München 2019, 270 S., 22 Euro