Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
von unserem Kollegen Goethe ist der Ausspruch überliefert: „Die einzige Göttin, die ich verehre, ist die Gegenwart.“ Und in der Tat leben wohl jene Menschen am intensivsten, die sich bei allem, was sie umtreibt, was sie tun und lassen, auch gedanklich und emotional immer im Hier und Jetzt befinden, die kaum einen Gedanken aufs Vergangene oder Künftige verschwenden. Doch können sich vermutlich nicht viele von uns ein auf solche Weise gegenwartszentriertes Dasein erlauben, ist man doch schließlich fast immer irgendwie auf die Zukunft fixiert: sei es durch drängende Sorgen und Nöte, sei es durch etwaige Hoffnungen und Wünsche oder auch Illusionen. Hinzu kommt noch der unvermeidbare Blick in den Rückspiegel. Hätte man dieses oder jenes nicht anders oder besser machen können? Oder – noch besser – es vielleicht einfach sein lassen sollen? Aber der Blick zurück kann einem auch wohlige Momente süßer Erinnerung und schwermütiger Nostalgie bescheren. Vermutlich lenken die Menschen ihre Gedanken, die ja zumindest solange frei sind, wie sie nicht durch äußere Umstände in eine bestimmte Richtung gedrängt werden, stets auf das, was sie als besonders angenehm empfinden. Und hier erweisen sich die Temperamente und Charaktere als sehr unterschiedlich…
Die einen leben gedanklich in einer Zukunft, die sie sich in den leuchtendsten Farben auszumalen pflegen, was ihnen womöglich ihre als trist empfundene Gegenwart erträglicher macht. Die anderen, und das sind insbesondere jene, die von ihrer Zukunft nicht (mehr) viel zu erwarten haben, leben beständig in einer Vergangenheit, die ihnen oft umso schöner erscheint, je länger sie zurückliegt und je mehr die weniger guten Erinnerungen an sie zu verblassen beginnen. Nur die allerwenigsten Menschen gehen ganz in der Gegenwart auf…
Ich selbst bin übrigens mental so gestrickt, dass mir das Schwelgen in Erinnerungen – bis hin zu ihrer nostalgischen Verklärung – weitaus mehr liegt als das Erschaffen leuchtender Zukunftsentwürfe oder das Genießen des gegenwärtigen Augenblicks. Und was wenig überraschend ist: Diese Veranlagung verstärkt sich bei mir noch mit zunehmendem Alter. Und doch kommt es manchmal noch vor, dass Hoffnungen, Wünsche, Illusionen in mir aufsteigen. Immerhin…
Dein Johannes