Der katholische Theologe und Stasi-Experte Matthias Wanitschke aus Erfurt im Gespräch zu 30 Jahren deutsche Wiedervereinigung, DDR, MfS, SED und katholischer Kirche
Herr Dr. Wanitschke, welche persönlichen Erinnerungen haben Sie an die DDR?
1964 geboren, verbrachte ich 25 Jahre in diesem „Freiluft-Gefängnis“. Ich wollte immer frei sein, scheute aber die Selbstschussanlagen an der Grenze oder das Gefängnis, um dann als Politischer vom Westen freigekauft zu werden.
Meine prägenden Erinnerungen hängen natürlich mit der „Revolution“ 1989 zusammen. Es war der „Wahnsinn“, mitzuerleben, wie ein waffenstarrendes System an Kerzen scheiterte.
Sie sind katholischer Theologe und haben über das Menschenbild der DDR-Staatssicherheit promoviert. Wie kam es zu diesem Thema?
Nach Abschluss meines Studiums begann ich 1993 beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) in Erfurt im Bereich Akteinsicht zu arbeiten. Mich erstaunte die eschatologische Funktion der Stasi als „Jüngstes Gericht“, das Volk aktuell in gute „Schafe“ und böse „Böcke“ zu scheiden. Die „Positiven“ waren dann anzuwerben und die „Negativen“ zu „liquidieren“, d. h. im Gefängnis mittels Strafe umzuerziehen oder gesellschaftlich unschädlich zu machen, sprich zu „zersetzen“.
Durch „Betroffene“ und „Mitarbeiter“ der Stasi, die zur Akteneinsicht kamen, um in Ihre „Opfer-“ und „Täter“-Akten einzusehen, erfuhr ich dann deren subjektive, persönliche Seite dieses geschlossenen Gesellschafts-Projekts, möglichst viele „DDR-Bürger“ zu Opfern und Tätern zugleich zu machen. 1995 bin ich dann zum Landesbeauftragten gewechselt und habe dieses funktionale Menschenbild für mich nochmals auf den Punkt gebracht.
Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie mit ehemals hauptamtlichen Mitarbeitern der Staatsicherheit gemacht? Was sind das, aufs Ganze gesehen, für Menschen?
Vorweg: Auch Stasi-Offiziere sind keine Teufel, sondern (nur) Menschen (wie du und ich). Personalakten über hauptamtliche Mitarbeiter habe ich mittlerweile viele erforscht. Aber eine Akteinsicht, die ich vor über 25 Jahren beim Bundesbeauftragten durchführte, steht mir immer noch deutlich vor Augen und beleuchtet den von der SED-Macht gewünschten „Genossen fürs Grobe“. Ein älterer Mann kam mit der Vermutung, dass die Stasi seine Schwester, deren Mann und Kind exekutiert hatte, zur Akteinsicht. Ihm war bekannt gewesen, dass sein Schwager mit der Tätigkeit bei der Stasi unzufrieden war und wieder zur Feuerwehr zurück wollte. Dann war die gesamte Familie tot. Keiner wusste, warum. Die Untersuchung in den Akten zeigte, dass der Mann einen „kollektiven Selbstmord“ verübt hatte, weil die Stasi ihn als verstockten, vom „Klassenfeind“ verweichlichten Versager beschimpft hatte. Interessant ist, dass die Stasi-Ermittler zunächst sogar eine soziale Mitschuld am Desaster im Abschlussbericht eingeräumt hatten, weil die Suhler Vorgesetzten zu hartherzig gewesen seien und sein Geständnis, dass er „von seiner Psyche her nicht geeignet sei, eine Tätigkeit im MfS durchzuführen“ ignorierten. Die oberste Personalführung aus Berlin wies diesen leisen Zweifel aber kategorisch als „subjektiv und völlig einseitige“ Meinung ab und legte fest, ich übersetz das mal in religiöse Sprache: Weil der Genosse fürs Gute seinen festen Glauben an den Machterhalt verlor, konnte ihm der Teufel Zweifel ins Herz streuen, sich dem höchsten Gruppenziel via Suizid zu entziehen.
Bei der Stasi konnte man sich nicht bewerben, sondern die Stasi kam auf die DDR-Bürger zu, die leistungsstark, aber vor allem ideologisch „linientreu“ und ohne Westverbindungen sein sollten. Vor allem in der Ego-Literatur gleich nach dem Zusammenbruch beklagten die Stasi-Mitarbeiter ihre Enttäuschung über die Enge und die Angst. Jedem war klar, dass er nur via Sarg aus diesem Geheimbund herauskam. Wer sich aber an der geliehenen Gewalt über die Anderen zu berauschen wusste, der konnte vielleicht seine innere Ohnmacht kaschieren. In Filmen wird dieser ambivalente Typ gut beleuchtet.
Nur von zwei Erfahrungen mit ehemaligen Hauptamtlichen kann ich berichten. Einen mich sehr beeindruckenden Menschen lernte ich 2006 kennen, als wir Zeitzeugen suchten, um die Stasi-Untersuchungshaft in Erfurt mit Leben zu erfüllen, damit das Gebäude am Erfurter Domplatz nicht abgerissen würde. Heute ist das die „Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße“. Für die Besucher wirkte das nachhaltig, einen geläuterten Stasi-Offizier zu erleben: Nachdem ich der Menge von 5 bis 50 Interessierten, in einer der Zellen oder vor dem Hafttrakt stehend, die allgemeine Fakten erzählte, berichtete der Stasi-Hauptmann seine Erlebnisse und endete damit, dass die Freiheit zwar nicht leicht, aber besser als jede (Versorgungs-)Diktatur sei. Manchen bekannte er auch seine spätere Taufe und seinen aktiven christlichen Glauben.
Der andere Hauptamtliche wollte seine Geschichte gern Schülern erzählen. Ich solle mal seine Autobiografie lesen. Offenherzig schildert er darin sogar, dass ihn seine Mutter der Stasi als Spitzel empfohlen hatte und dass sein Opa dem Jugendlichen erfolgreich verbot, sich in die Pastorentochter zu verlieben. Unreflektiert sieht er sich (weiterhin) als (bedeutendes) Rädchen im Macht-Getriebe.
Nach Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft gab es in der DDR rund 400 inoffizielle Staatssicherheitsmitarbeiter in Reihen der Katholischen Kirche. Wo kamen die her? Und vor allem: Wie kamen die zur atheistischen Staatssicherheit?
Mit dem Atheismus hat dieser, von einem inoffiziellen Mitarbeiter (IM) gewünschte Fremd- und Selbst-Verrat gar nichts zu tun. Staat und Kirche einigten sich faktisch, über Gottesbeweise nicht zu streiten. Der Staat wurde nur sauer, wenn Christen politisch wurden. Die katholische Kirche war unpolitisch, ganz anders die evangelische, weil sie größer war und nicht so hierarchisch organisiert ist.
Jeder Verräter hatte seine (intimen) Motive. Die IM-Vorgänge waren von einer „deutschen Behörde“ verfasst worden, müssen natürlich gedeutet werden, sind aber zur Beantwortung der Frage sehr gut geeignet. In einem „Vorlauf“ forschte die Stasi nach intimen „Ansatzpunkten“ der Verführung. Psychologisch gesprochen, suchten die Führungsoffiziere nach ich-schwachen Männern (nur 10 Prozent waren Frauen), die letztlich aus niederen Beweggründen wie Neid (auf den Vorgesetzten) oder Angst (vor der eigenen Bedeutungslosigkeit) den geheimen Pakt mit der (eigentlichen) Staats-Macht eingingen. Es wäre so einfach gewesen, sich unbrauchbar zu machen, indem man den Stasi-Anwerbe-Versuch öffentlich gemacht hätte. Aber das war sehr selten.
Kirchlichen Mitarbeitern war es kategorisch verboten, überhaupt mit dem Staat, geschweige denn mit der Stasi zu sprechen. Vor den Ferien war das immer der letzte Punkt der Anweisungen: „Wenn die Stasi anklopft, nicht reden und sofort zum Bischof!“ Heute wissen wir, die Stasi beklagte durchgehend einen Informationsmangel über den katholischen Raum. Ich kenne keine schlimmen Verratsfälle durch Katholiken, die zur Inhaftierung von Andersdenkenden führten. Ideologisch sahen sich Kirche und Staat als Feinde, die sich gegenseitig belauerten. Dass aber heimliches Kungeln mit der Stasi-Macht immer zum Selbst-Verrat führte, wird immer noch nicht thematisiert. Aus dem Eichsfeld kenne ich drei IM-Priester-Akten, die das Kontaktverbot ihres Bischofs missachteten: Warum? Was sagen diese Akten? Für (banale) Informationen erhielt der eine seine Funker-Lizenz zurück, dem anderen konnte durch Westreisen geschmeichelt werden. Beim dritten stellt sich das komplexer dar: Ihm wurde zunächst vorgegaukelt, einen Jugendlichen seiner Gemeinde, der dann selbst angeworben werden konnte, vor dem Zugriff des SED-Justiz retten zu müssen. Dieser patriarchale „Ansatzpunkt“ scheint die Verbindung der beiden Männer, die sich vielleicht sogar mochten, gewesen zu sein. Schließlich traf man sich heimlich im Pfarrhaus, um über die Gretchenfrage zu diskutieren. Eindeutig hatte dieser Pfarrer das Kontaktverbot seines Bischofs übertreten. Aber warum? Was war(en) sein(e) Motiv(e)? Einsamkeit?! Dünkel?! Die Stasi jedenfalls verbot dem Führungsoffizier weitere Treffen mit dem Priester, weil keine nützlichen Informationen flossen. Die Akte wurde geschlossen. Alle drei IM-Priester sind leider schon verstorben.
Was sagen Sie denjenigen, die heute behaupten, die DDR sei ein sozialer Wohlfühlstaat gewesen, in dem politische Freiheiten ein wenig eingeschränkt gewesen seien?
„Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.“, sagte Benjamin Franklin. „Nach Kant darf keiner mehr gehorchen“, sagt Hanna Arendt. Als Verfassungspatriot glaube ich an die Freiheit (des Menschen) und die offene Gesellschaft. Platons, aber auch Thomas von Aquins Traum einer geschlossenen, perfekten Gesellschaft halte ich für unmenschlich: „Wer den Himmel auf die Erde zwingen will, schafft die Hölle.“
Hypothetische Frage: Wenn SED-Generalsekretär Erich Honecker heute auf die neuen Bundesländer blicken könnte, was würde er denken? Wie erklärt sich ein katholischer Theologe die Seelenlage dieses Politikers, der nach seinem Sturz bei einem Pastor Unterschlupf fand?
Ich sehe Honecker nicht als eigensinnigen Denker, mehr als gedankenlosen Parteisoldaten. Natürlich hat(te) auch er eine göttliche Seele. Vielleicht konnte ihm Pastor Holmer durch sein wahres Christsein das Herz öffnen.
Sie wollten in der DDR katholischer Priester werden. Was hat sie damals bewogen, als Seelsorger in einem stark säkular, antikirchlich geprägten Umfeld zu arbeiten?
Als männlich und katholisch fiel mir damals nichts Besseres ein. Ich lernte die Philosophie liebten, wusste aber schon 1988, dass ich diesen unmenschlichen Beruf nicht ergreifen will und kann. Dann stürzten ein Jahr später mit der DDR auch die Kirchen-Mauern und ich konnte als freier Mensch mein Studium beenden.
Inwieweit sind Sie bei Ihrer heutigen Arbeit in Erfurt als katholischer Theologe gefragt?
Konkret gar nicht. Ich bin nicht als Seelsorger, sondern als politischer Bildner beim Land angestellt.
Welche Rolle spielte die katholische Kirche in der DDR-Gesellschaft und wie ist sie, aus Ihrer Sicht, heute in den neuen Bundesländern verortet? Worin besteht, aus Ihrer Sicht, der katholische Beitrag beim Zusammenwachsen Deutschlands?
Das ist ganz einfach zu beantworten: Gott hat sein Gegenüber in der jeweiligen Seele. Hier wirkt und schafft er unablässig das Gute. Ob die Amts-Kirche(n) das aber verstehen (werden), ist ein weites Feld. Die katholische Kirche war nur aufs „Überwintern“ aus. Heute sehe ich, dass die Amts-Kirchen gesellschaftlich nichts Neues zu sagen haben, nur als Bedenkenträger erscheinen. Wenn meine Kirche erst im letzten Jahr die staatliche Justiz als einzige Strafinstanz anerkannte, dann sehe ich, wie weit sie von ihrem Selbstverständnis noch im Mittelalter feststeckt.
Bitte beschreiben Sie die aktuelle Lage des Erfurter Priesterseminars aus Ihrer Sicht. Welche Entwicklung hat es seit 1990 genommen?
Darüber bin ich überhaupt nicht im Bilde. Auch halte ich die herkömmliche Priesterausbildung für völlig falsch. Den menschenfreundlichen Gott können glaubhaft nur „erprobte“ Frauen und Männer erlebbar machen, also Christen, die nicht nur Bücher übers Leben gelesen, sondern eigene Lebens- und Liebens-Krisen glaubend überstanden haben. Was sollte ein Kinder- und Ehe-Loser z. B. Eltern über Be- und Er-Ziehung sagen, außer allgemeinen Moralvorstellungen. Aber der christliche Gott ist kein Moralist, sondern Liebe!
Abschließende Frage: In welcher Verfassung sehen Sie die ostdeutschen Bistümer in zwanzig Jahren? Wird es sie in der heutigen Form noch geben?
Ich hoffe auf eine zeitübliche Theologie der Macht-Begrenzung und Kontrolle, wie es Demokratien seit 200 Jahren versuchen und wir Deutschen vom Westen „geschenkt“ bekamen, so dass die besten Frauen und Männer zu Bischöfen auf Zeit vom Kirchenvolk gewählt und die Christen vereint als Froh-, nicht als Droh-Botschafter sichtbar werden. Ich sehe das optimistisch beim je Einzelnen. Die Amtskirche scheint auf ein Sekten-Modell schrumpfen zu wollen.
Dr. Matthias Wanitschke, geb. 1964 in Stralsund, ist promovierter Diplom-Theologe. Er ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und ist seit 25 Jahren Referent für politische Bildungsarbeit beim Thüringer Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Das Interview führte Benedikt Vallendar.