Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
vor kurzem las ich in der Zeitung eine Doppelseite zum Thema “Rassismus in Deutschland”. Dort wurden mehrere Menschen “mit Migrationshintergrund” porträtiert, die über ihre einschlägigen Erfahrungen berichteten. Darunter auch eine hier aufgewachsene junge Türkin, die erklärte, dass sie sich, seitdem sie ein Kopftuch trage, ständig feindseligen Blicken ihrer Mitmenschen ausgesetzt fühle. Sie hätte es früher, also bis vor einigen Jahren, nie für möglich gehalten, dass es in Deutschland einen solchen Rassismus gäbe, denn als sie noch kein Kopftuch trug, hätte sie nie so etwas erlebt. Niemals habe sie zu dieser Zeit irgendjemand feindselig angeschaut. Es sei offenbar das Kopftuch, weshalb sie nun so angefeindet werde.
Lange habe ich darüber nachgedacht, ob das Wort Rassismus hierfür wirklich der richtige Begriff ist. Natürlich gibt es hierzulande, wie vermutlich fast überall sonst in der Welt, rassistische Einstellungen, die sich manchmal offen und mitunter auch nur unterschwellig bemerkbar machen. Und anders, als vor allem viele aufgeklärte Menschen bei uns denken, ist zumindest die subtile Variante in Deutschland auch nicht unbedingt seltener anzutreffen als woanders. Es fällt einem nur zumeist erst dann so richtig auf, wenn man direkt damit konfrontiert ist. Ich erinnere mich vor allem an drei besonders schockierende Erlebnisse gemeinsam mit meiner koreanischen Frau. Als wir vor gut zwei Jahrzehnten für einige Jahre in einer Gegend am Bielefelder Stadtrand wohnten, in der auch viele Aussiedler aus Russland lebten, wurde meine Frau dort, wenn wir auf der Straße gingen, hauptsächlich von anderen Frauen regelrecht aggressiv feindselig angestarrt. Dies geschah permanent ohne erkennbaren Grund, offenbar allein deshalb, weil wir ein deutsch-asiatisches Paar waren. Doch erlebten wir so etwas nicht nur mit Frauen aus Russland. Auf einer Interrail-Reise nach Südeuropa, es muss wohl Ende der Neunziger gewesen sein, fuhren wir aus Gründen, an die ich mich nicht mehr genau erinnern kann, auch ein Stück mit einem langsamen Regionalzug durch Bayern. Und dort erlebten wir, als wir einen Wagon voll mit bayrischen Rentnern betraten, etwas ganz Ähnliches. Diese Leute drehten alle ihre Köpfe nach uns um und starrten uns auf eine aufdringliche Weise hasserfüllt an, dass es zum Fürchten war. Und die dritte Erfahrung machten wir hier in Berlin in einem Bus vor drei Jahren, zu Beginn der Corona-Zeit. Ein offenbar aus Osteuropa stammender Mann beschimpfte in gebrochenem Englisch meine Frau als “Chinesin” für ihr “Fucking Corona” und bespuckte sie. So etwas ist zweifellos Rassismus im engeren Sinne, also die Herabwürdigung anderer, nur weil sie eine andere Hautfarbe haben.
In einem weiteren Sinne lässt sich der Rassismus-Begriff aber auch ausdehnen auf die Herabsetzung anderer, weil sie einer anderen Religion oder Kultur angehören und anders gekleidet sind. Problematisch wird dies aber spätestens dann, wenn bestimmte Kleidungsstile zugleich auch eine politische Einstellung repräsentieren, die man als keinesfalls respektabel ansieht. Man muss nicht so weit gehen wie Alice Schwarzer, die die Frage einer Journalistin (die sie damit natürlich “aufs Glatteis führen” wollte) bejahte, ob sie Kopftuchträgerinnen wegen der dadurch zum Ausdruck gebrachten politischen Symbolik für genauso verachtenswert halte wie Hakenkreuzträger. Aber nehmen wir den Fall, dass jemand ein Putin-T-Shirt trägt oder eins mit einem großen Z. Ist es da nicht sogar geboten, ihn feindselig und verächtlich anzuschauen? (Sofern man sich das überhaupt traut und nicht Angst verspürt, von ihm dafür eine reingehauen zu bekommen…) Steht nicht, wer ein Kopftuch trägt, für einen politischen Islam? Für Verhältnisse, wie sie in Iran oder Saudi-Arabien herrschen? Dafür, dass Frauen als Menschen zweiter Klasse angesehen werden?
An sich ist das Kopftuch ja nur ein unschuldiges Kleidungsstück, wie es z.B. eine Zeit lang in den Fünfzigern und Sechzigern auch in Mitteleuropa sehr angesagt gewesen ist. Ich weiß noch genau, wie meine Oma, es könnte Anfang der Achtziger gewesen sein, immer mit einem Kopftuch zum Friedhof gegangen ist. Allerdings trug sie es nur, damit es ihr nicht kalt werden sollte am Kopf und weil sie es möglicherweise schick fand, denn es galt ja, als sie jünger war, als sehr modern. Aber was sie damit absolut nicht im Sinn hatte, war, ihre Haare vor Männerblicken zu verbergen. Wer letztere Absicht hat, der schnürt sich das Kopftuch eng um den Kopf, so wie es eigentlich fast alle Muslimas tun. Wenn eine Muslima ihr Kopftuch nur locker um den Kopf trägt, sodass die Haare herausragen, dann will sie damit zeigen, dass sie das Kopftuch nur unter Protest trägt, so wie man es jetzt häufig im Iran sieht. Hier bei uns machen so etwas allenfalls Frauen, die von ihren Familien zum Kopftuchtragen gezwungen werden, und sie zeigen dadurch ihren stillen Protest.
Angeblich soll das Kopftuch ja vor allem ein religiöses Symbol sein, und wer gegenüber Kopftuchträgerinnen feindselig eingestellt sei, so heißt es dann, der missachte das Grundrecht auf freie Religionsausübung. Demgegenüber versichern uns allerdings Islam-Experten, dass im Koran das Kopftuch mit keiner Silbe Erwähnung finde. Dort stehe nur, dass Frauen ihre Reize bedecken sollten. Aber gut, wenn die Angehörigen einer Religion es zu großen Teilen so sehen, dann ist es eben zumindest auch ein religiöses Symbol. Vor allem aber steht es für eine bestimmte Kultur, nämlich für eine extrem frauenfeindliche. Und genau dadurch ist es zugleich auch ein politisches Symbol, und zwar ein sehr ungutes. Man kann darin, dass sich die Kopftuch-Befürworter aus all den genannten Aspekten dieses ambivalenten Symbols hauptsächlich auf dessen religiöse Dimension kaprizieren, leicht die Strategie erkennen, unter dem Deckmantel der westlichen Religionsfreiheit ihr eigenes frauenfeindliches politisches Süppchen zu kochen. Und die vermutlich Millionen freiwilligen Kopftuchträgerinnen sind die nützlichen Idiotinnen dieser zutiefst reaktionären Bewegung.
Ist es also rassistisch, Kopftuchträgerinnen feindselig anzustarren? Also in meinen Augen eher nicht, zumal dadurch der wirkliche Rassismus, d.h. der im engeren Sinne, der anders als der auf Bekleidungsstile fixierte “kulturelle Rassismus” nichts Ambivalentes hat, nur bagatellisiert werden kann, wenn man ihn mit der Abwertung von Kopftuchträgerinnen in einen Topf wirft. Was natürlich keineswegs bedeutet, dass es in Ordnung wäre, Frauen mit Kopftüchern verächtliche Blicke zuzuwerfen. Grob unhöflich ist es allemal und außerdem auch nicht besonders intelligent. Schlauer wäre es sicherlich für aufgeklärte Menschen, solchen Frauen mit größtmöglicher Offenheit und Freundlichkeit zu begegnen, da man sie sonst nämlich erst recht in eine extremistisch-fundamentalistische Ecke treibt. Es sollte vielmehr darum gehen, sie für unsere freiheitlich-demokratische Ordnung zu gewinnen. Man kann allerdings nur inständig hoffen, dass sich hierzulande auch weiterhin kopftuchtragende Lehrerinnen und Richterinnen verhindern lassen (was leider keineswegs sicher ist). Denn mit staatlicher Neutralität oder gar Vorbildlichkeit für junge Menschen ist dieses altbewährte Unterdrückungssymbol nun wirklich nicht zu vereinbaren.
Dein Johannes