G. F. Schuppert macht Anmerkungen zu gestressten Gesellschaften
Matthias Wiemers
Ende der 1970er Jahre erschienen zwei interessante und voluminöse Sammelbände mit Beiträgen, die sich mit dem Problem der „Regierbarkeit“ beschäftigen.
Um die Regierbarkeit unseres Gemeinwesens steht es gewiss nach über 40 Jahren inzwischen nicht besser als in den späten Siebzigern, so dass der schmale Band, den es hier vorzustellen gilt, zunächst überraschen mag. Er stammt aus einer Feder, und zwar aus der des Juristen Gunnar Folke Schuppert (, der ausschließlich mit sehr harten Bleistiften schreibt – weder mit Feder, noch mit PC) und der wohl als „der“ Protagonist des Governance-Ansatzes gelten kann, der mit „Steuerung“ nur unzureichend übersetzt ist (zum Begriff: Schuppert, Alles Governance, oder was?, Nomos, 2011).
Der Autor erhebt hier den Anspruch, von einem reinen Krisenmanagement zu einer „ganzheitlichen krisenwissenschaftlichen Perspektive“ zu gelangen.
Sodann beschäftigt sich der Autor mit „Krisen“ (B.) und beginnt mit einer Begriffsgeschichte.
Anschließend beschreibt Schuppert die Auswirkungen von Krisen auf die Entscheidenden, die als „Getriebene“ erschienen und die Schuppert für den Beginn der Corona-Krise als „Laienspielschar“ charakterisiert, zu Beginn des Ukraine-Krieges wird das Regieren „am Limit“ beschrieben. Der Autor zeigt insgesamt auf, wie sich Ohnmachtserfahrungen von Regierenden heute und in historischer Perspektive – es wird die Weimarer Republik an ihrem Anfang und Ende beschrieben – zum Ausdruck bringen. Schließlich werden auch „krisentypische Sozialfiguren“ beschrieben, unter denen „Raffkes“, „Schieber“ und „Hamsterer“ explizit hervortreten. Diesen „Klassikern“ wird die neue Sozialfigur des Querdenkers an die Seite gestellt.
Sodann trägt Schuppert Erklärungsversuche der Wissenschaft zusammen – von Heinz Schillings Darstellung des 16. /17. Jh. Als „Aufbruch und Krise“ bis zu Klaus Hurrelmanns These von der posttraumatischen Belastungsstörung, auf die Gesellschaft bezogen.
„Bedrohte Ordnungen“ sind das Thema des dritten Kapitels, wo Schuppert einen Schritt weiter, „von der Krise zur Bedrohung“ und hierbei durchaus zwischen gefühlten und realen Bedrohungen unterscheidet (ein Faktum übrigens, mit dem sich Juristen häufig schwertun, da staatliche Eingriffsbefugnisse reale Bedrohungen voraussetzen).
Im vierten Kapitel über „Zeitenwenden“ werden „Krise“ und „Zeitenwende“ als Begriffe mit besonders hohem „Inflationsrisiko“ bezeichnet.
Bei der Zeitenwende macht Schuppert sodann vier „bereichsspezifische Zeitenwenden“ aus:
• die sicherheitspolitische Zeitenwende,
• die sog. Energiewende,
• die Wende in der Asylpolitik und schließlich
• den „erinnerungspolitischen Gezeitenwechsel“, der durch von Weizsäckers Rede zu 40 Jahre Kreisende 1985 eingeleitet wurde.
Das Konzept der „Triggerpunkte“ von Steffen Mau und Thomas Lux und Linus Westbeuer findet Schuppert „hilfreich“ und übernimmt deren Charakterisierung als Auslöser von Debatten mit Erregungsüberschuss: „als jene Orte innerhalb der Tiefenstruktur von moralischen Erwartungen und sozialen Dispositionen, auf deren Berührung Menschen besonders heftig und emotional reagieren“ (S. 79).
Am Schluss beschäftigt sich Schuppert – für ihn selbst wiederholt – mit dem Begriff der Resilienz, den er augenscheinlich für ebenso förderungswürdig hält wie den der Governance.
Nach einer anfangs gestellten Frage geht es dem Autor einerseits um die Resilienz von (einzelnen) Betroffenen, aber auch um eine solche von „gestressten, erschöpften oder gereizten Gesellschaften“ und schließlich auch um die „Systemresilienz“ (S. 85 f.), mithin um die Resilienz bedrohter Ordnungen.
Schuppert verdeutlicht, dass Resilienz durch „Story Telling“ geht, weil die von ihm bereits angesprochenen Verschwörungstheorien die Funktion einer „kognitiven Dissonanzreduktion“ erfüllten (S. 86).
Als Lösung wird das Konzept des „Re-Ordering“ präsentiert, zu dem Schuppert wie in den vielen anderen präsentierten Begriffen wieder einmal eine nützliche Lektüre geführt hat, nämlich die des Buchs von Peter Graf Kielmansegg über das geteilte Deutschland aus dem Jahre 2000.
Als Lösung der posttraumatischen Belastungsstörung wird am Schluss – wiederum vom Individuum zum Kollektiv hin gedacht – die Erscheinung der „posttraumatischen Reifung“ (S. 92) präsentiert.
Was soll uns dieses kleine Bändchen nun sagen?
Der seinerzeit früh auf einen Lehrstuhl berufene Autor hat seinen Blick schon früh über die Grenzen des (öffentlichen) Rechts hinaus geweitet und voluminöse Werke über Staats-, Verwaltungs- und Europawissenschaften verfasst. In den letzten Jahren hat er sich zunehmend mit Begriffsgeschichte(n), Prozessen und öffentlichen Kommunikationen beschäftigt.
Der Band mag Anregung geben, unser Schicksal persönlich und als Gesellschaft selbst in die Hand zu nehmen und das Beste darüber zu erzählen. Auf dass die Wirklichkeit ebenso gut werde!
Gunnar Folke Schuppert
Krisen, Bedrohte Ordnungen, Zeitenwenden, Resilienz
Nomos Verlag, 2024
93 Seiten; 24,00 EUR
ISBN 978-3-7560-1618-1