„Erfolgreich zeitlos investieren“ von Heiko Thieme
Thomas Claer
Der Optimist beginnt seinen Tag damit, dass er sich schon beim Erwachen denkt: Ich bin satt und halbwegs gesund. Ich habe ein Dach überm Kopf. Und nun kann ich loslegen und mein Gehirn in Bewegung setzen. Ist das nicht fantastisch? Mit solch einer lebensfrohen Grundeinstellung ist dann, das lernen wir aus dem jüngst erschienenen Buch „Erfolgreich zeitlos investieren“ der mittlerweile 82-jährigen Börsenlegende Heiko Thieme, nichts mehr unmöglich.
Allerdings ist es wirklich kaum zu glauben, dass Altmeister Heiko Thieme, der zeitlebens mehrere zehntausend Seiten an Artikeln, Kolumnen und Börsenbriefen verfasst hat, erst jetzt, im neunten Lebensjahrzehnt stehend, sein Debüt als Buchautor gegeben hat. Aber vermutlich hat ihm bislang einfach die Zeit dafür gefehlt. Er ist ja ständig auf Achse. Nun erhält man als Leser also endlich in komprimierter Form das, was dieser „globale Anlagestratege“ als sein Erfolgsrezept bei der Geldanlage ansieht. Doch das ist, rein quantitativ gesehen, weniger, als man denken könnte. Von den rund 200 Seiten muss man zunächst noch die einleitenden und zwischendurch eingeschobenen kommentierenden Passagen seines Co-Autors Andreas Scholz in Abzug bringen, außerdem einige grundlegende Betrachtungen über die Aktienanlage an sich (an der selbstredend kein Weg vorbeiführt) sowie ein paar zig Seiten über sein Weltbild (Optimismus ist Pflicht), seine politische Einstellung (Freiheit geht über alles), seine Jahrzehnte zurückreichenden Börsen-Erlebnisse (eine Anekdote reiht sich an die nächste) und seine Hobbys (Marathonlaufen, Bergsteigen, im Kleinflugzeug fliegen, Schachspielen, Zaubertricks aufführen sowie Whisky trinken und im Keller horten).
Auf die eigentliche Anlagestrategie entfallen dann gerade einmal 80 Seiten – doch die haben es dafür wirklich in sich. Thieme erläuert hier ausführlich seine überaus durchdachte konsequent antizyklische Vorgehensweise einschließlich seiner berühmten Drei-Drittel-Strategie. Das klingt alles sehr plausibel und dürfte, wenn man sich als Privatanleger daran hält, wohl auch ganz passabel funktionieren. Allerdings ist dies natürlich nur eine von vielen denkbaren Methoden, an der Börse gewinnbringend zu agieren. Es ist ja inzwischen hinreichend wissenschaftlich untersucht worden, welche Börsenstrategien am erfolgreichsten sind: nämlich in manchen Marktphasen die einen und in anderen Marktphasen die anderen. Ein paar Jahre oder sogar Jahrzehnte lang funktionieren Value- und Dividendenstrategien am besten, dann führen diese jedoch zu Underperformance, und stattdessen bringen Wachstums- oder Trendfolgestrategien weitaus mehr ein. Manchmal sind sogar Charttechnik und technische Analyse über längere Zeiträume sehr erfolgreich. Die Crux ist nur, dass sich das alles in der Rückschau leicht feststellen lässt, aber man niemals vorher weiß, was künftig wohl am besten klappen wird. Insofern ist es auch bezeichnend, dass ein unbestrittener Könner wie Heiko Thieme als Fondsmanager in den Neunzigern dreimal für den besten, aber auch einmal für den schlechtesten Fonds des Jahres „ausgezeichnet“ wurde.
Was kann man als Privatanleger also tun? Entweder man sucht sich unter den besagten Methoden diejenige aus, die einem selbst am ehesten einleuchet oder die am besten zu einem passt, und bleibt dann dabei. Besser irgendeine Strategie, als gar keine Strategie an der Börse, wird oft gesagt. Oder man kombiniert die Methoden oder nimmt mal die eine und mal die andere – oder man denkt sich selbst etwas Eigenes und Neues aus. Vieles ist möglich, aber nur allzu oft erweist sich dann rückblickend: Wie man es auch macht, macht man es verkehrt, und hinterher ist man immer klüger. Nüchtern betrachtet spricht viel dafür, dass es am wichtigsten ist, überhaupt langfristig in Aktien investiert zu sein – und sei es nur mit ganz profanen ETFs.
Seit fast anderthalb Jahrhunderten, das betont auch Heiko Thieme immer wieder, liegt die durchschnittliche Jahresperformance in den meisten Indizes inklusive Dividenden bei acht bis neun Prozent, was das anhaltende globale Wirtschaftswachstum seit Beginn der Industrialisierung spiegelt bzw. immer ein Stück über diesem liegt. Und angesichts der gegenwärtigen und erst recht auch künftig zu erwartenden revolutionären technischen Innovationen sollte doch auch auf lange Sicht mindestens soviel drin sein. Andererseits erleben wir gerade in unserer Gegenwart, wie destruktive politische Akteure im Begriff sind, den Welthandel lahmzulegen, was dann letztlich auch die Börsen beeiträchtigen würde. Doch zumindest Dauer-Optimist Heiko Thieme gibt hier Entwarnung: Selbst zwei Weltkriege und diverse Weltwirtschaftskrisen hätten die Aktienkurse bislang nicht davon abhalten können, sich letztendlich doch immer wieder zu erholen und neue Rekordstände zu erreichen. Und das werde auch in Zukunft so sein. „Denn eines ist sicher: Die Welt wird nicht untergehen. Und sollte ich mich täuschen, dann spielt es auch keine Rolle mehr.“
Bleibt nur noch kritisch anzumerken, dass sich der große und grundsympathische Heiko Thieme an einer nicht ganz unwesentlichen Stelle in seinem Buch kolossal verrechnet hat. Auf S. 74 heißt es: „Im besten Falle sollte schon bei der Geburt für jede und jeden ein Depot angelegt und dann sukzessive darin eingezahlt und die Gelder an der Börse investiert werden. Und hier kommt meine Regel für ein erfolgreiches zeitloses Investieren an der Börse: Das jeweilige Lebensjahr sollte mit 100 multipliziert werden . Dies entspricht dann dem Betrag der dann im entsprechenden Jahr angelegt werden sollte. Im 20. Lebensjahr wären das also 2.000 Euro. Im 21. Lebensjahr wäre es 2.100 Euro und so weiter. Rechnet man diese Summen hoch, so kommt man bis zur Pension – ich halte wegen der steigenden Lebenserwartung ein höheres Pensionsalter von 70 Jahren für gerechtfertigt – auf eine Gesamtsumme von rund 222.500 Euro. Nehmen wir dann nur eine durchschnittliche Performance in Höhe von 8 bis 9 Prozent pro Jahr an, dann hat dieser Anleger bis zu seiner Pension ein Gesamtvermögen von 1,25 Millionen Euro aufgebaut. Ich finde diese Zahlen immer wieder eindrucksvoll…“
Schon auf den ersten Blick ist in mir der Verdacht aufgestiegen, dass das nicht stimmen kann, denn allein die ersten 2.000 Euro im 20. Lebensjahr werden bei einem angenommenen jährlichen Wertzuwachs von 9 Prozent innerhalb von 50 Jahren zu mehr als 230.000 Euro. Und es kommen ja anschließend noch 49 weitere jährliche EInzahlungen ins Depot hinzu, die ebenfalls viele Jahre lang „arbeiten“ können. Es müssen am Ende also weitaus mehr als „nur“ 1,25 Millionen zusammenkommen. Mit Hilfe der KI „Le Chat“ habe ich es dann mal durchgerechnet („Perplexity“ hat es nicht geschafft) und komme so auf einen Wert von 12,8 Millionen Euro (!) – und das bei den besagten wirklich sehr bescheidenen eingezahlten Summen! Welch eine Ironie, dass der oftmals als „Phantast“ angesehene Heiko Thieme, der an anderer Stelle den möglichen DAX-Stand am Ende unseres Jahrhunderts korrekt auf 11 Millionen extrapoliert (S.121 ff.), hier den Zinseszinseffekt außer Acht gelassen hat. Jenen Zinseszinseffekt, den Albert Einstein als „das achte Weltwunder“ bezeichnet und noch hinzugefügt hat: „Das verstehen nur die wenigsten, und alle anderen müssen es bezahlen.“ Die langfristige Geldanlage in Aktien, das folgt daraus, kann also sogar noch zehnmal mehr einbringen, als selbst der Berufsoptimist Heiko Thieme es sich träumen lässt…
Alles in allem ist Heiko Thieme somit ein aufschlussreiches, anregendes und unterhaltsames Börsen-Buch gelungen, in dem auch die Schlusspointe sitzt: Die beste Investition seines Lebens? Das sei die Ehe mit seiner Frau, und seine Kinder und Enkelkinder seien die Dividenden.
Heiko Thieme
Erfolgreich zeitlos investieren. Die Anlagestrategien der Börsenlegende
Finanz Buch Verlag, 1. Auflage 2025
206 Seiten; 25,00 Euro
ISBN: 978-395972-616-0