„Mit ‚böse und abartig‘ kann ich wenig anfangen“

Zu Besuch bei der katholischen Seelsorge in der JVA Tegel – dem größten Gefängnis Westeuropas

Benedikt Vallendar

Berlin – Den hohen Gast kannte Pjotr Adamek (Name geändert) bislang nur aus dem Fernsehen. „Und aus den Pfarrnachrichten, die im Foyer der Gefängniskirche ausliegen“. Umso mehr freute sich der aus Polen stammende Insasse der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel, den Berliner Kardinal Georg Sterzinsky (74) einmal persönlich kennen zu lernen. Über Weihnachten hatte Pjotr dazu Gelegenheit. „Ich bin katholisch, wie die meisten Polen“, sagte der 24-Jährige, verurteilt wegen Einbruchs und diverser Raubüberfälle. Als Hilfsarbeiter war Pjotr, dessen Familie aus der Gegend von Kattowitz stammt, vor fünf Jahren nach Deutschland gekommen. Seither ist im Leben des jungen Mannes Vieles schief gelaufen. „Obwohl wir Ausländer sind, haben wir wahrscheinlich einen engeren Bezug zu dem deutschen Kardinal haben als die meisten Berliner“, sagte Pjotr. Mit einem Katholikenanteil von unter zwanzig Prozent ist die Bundeshauptstadt tiefe Diaspora. Knapp jeder zehnte Insasse der JVA Tegel stammt aus Polen. Rund 1400 Insassen sind in Tegel, dem größten Männergefängnis Westeuropas, inhaftiert. Fast 40 Prozent der Gefangenen haben einen Migrationshintergrund. Das Gros bilden 22 bis 44-Jährige Verurteilte aus dem arabischen Raum und Osteuropa. Zu ihren Zellengenossen gehören afrikanische Drogendealer, Betrüger, Raubmörder und Menschenschmuggler aus Asien und Lateinamerika.

Häftlinge als Ministranten

Kaum hatten der Kardinal und seine Begleiter am zweiten Weihnachtsfeiertag 2010 die letzten Sicherheitsschleusen der JVA Tegel in der Seidelstraße durchschritten, waren sie auch schon umringt von Insassen aus Rumänien, Russland, dem Jemen und eben aus Polen. „Wir haben uns auf den Besuch mit dem Kardinal lange vorbereitet“, sagte Pjotr. Er selbst hilft in der Kirche auf dem JVA-Gelände als Ministrant aus. Pjotr ist ein so genannter „Musterhäftling“, der sich durch den Dienst am Altar eine günstige Sozialprognose erarbeitet hat. Er hofft auf eine vorzeitige Entlassung in zwei Jahren. Das 1897 erbaute Gotteshaus wird von katholischer und evangelischer Seelsorge gleichermaßen genutzt. Über Wochen haben Pjotr und andere Insassen, die vom katholischen Anstaltsseelsorger Stefan Friedrichowicz  (57) betreut werden, Lieder und Gebetstexte einstudiert und den Ablauf der Messe beim Besuch des Kardinals geprobt. Und der zeigte sich erbaut vom herzlichen Empfang, der ihm von den verurteilten Kriminellen, darunter Päderasten, Messerstecher und Betrüger, bereitet wurde. „Auch diejenigen, die in Unfreiheit leben, hat die Kirche nicht vergessen“, sagte Sterzinsky in seiner knapp halbstündigen Predigt. Das Oberhaupt des Berliner Erzbistums sprach von Schuld und Sühne, aber auch von der „inneren Freiheit“, die ein Mensch im christlichen Glauben finden könne. „Für eine Umkehr ist es nie zu spät“, sagte Sterzinsky an die Häftlinge gerichtet und belegte dies mit Stellen aus dem Neuen Testament. „Das sollte Ihnen Mut machen und Sie im Glauben stärken, dass Gott seinen Sohn für alle Menschen hat Mensch werden lassen“, sagte Sterzinsky, der sein Amt als Berliner Bischof seit 1989 innehat.

Das Gotteshaus in der JVA Tegel war an diesem zweiten Weihnachtsfeiertag gut besucht. „Das ist eher ungewöhnlich“, sagte Pfarrer Friedrichowicz. An normalen Sonntagen verirrt sich normalerweise nur ein knappes Dutzend in den Gottesdienst. Der hohe Andrang dürfte denn auch eher profane Ursachen gehabt haben. Wahrscheinlich hatte sich in der Anstalt frühzeitig herum gesprochen, dass es nach dem Gottesdienst ein gemeinsames Essen mit dem Kardinal, ohne die sonst übliche Knastverpflegung, geben würde. Ein Berliner Wohltäter hatte für diesen Tag Rouladen mit Klopsen und Rotkohl gesponsert. Dazu gab es  Milchkaffee und Sandkuchen aus einer Großbäckerei.

Permanente Gratwanderung

In der JVA Tegel haben auch prominente Häftlinge, wie der RAF Terrorist Andreas Baader und der Kaufhaus-Erpresser Arno Funke eingesessen. Doch Negativschlagzeilen blieben dem Gefängnis bislang erspart. „Der letzte Ausbruch gelang einem Häftling im Jahre 1992“, sagt Ralph Adam (49), Leitender Regierungsdirektor und Leiter der JVA Tegel. Adam ist, anders als die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen in dieser Position, nicht Jurist, sondern gelernter Pädagoge mit einer Zusatzausbildung im Verwaltungsrecht. „In der täglichen Arbeit muss ich mehr Pädagoge als Rechtskenner sein“, sagt Adam. Für ihn sind die Gefangenen Menschen, denen gegenüber er einen „gesetzlichen Auftrag zu erfüllen“ habe. Er verstehe sich als „Dienstleister“ gegenüber dem Staat und den Häftlingen. Und das sei eine „ständige Gratwanderung“ zwischen dem berechtigten Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft und dem gesetzlich vorgeschriebenen Resozialisierungsgebot. „Häftlinge sind Menschen, die in einer Phase ihres Lebens gegen Rechtsnormen verstoßen haben“, sagt Adam. Mit Begriffen wie „böse“ und „abartig“ kann der Familienvater nur wenig anfangen. Auch wenn es unter Berliner Häftlingen eine bedenkliche Rückfallquote gebe, dürfe ein Mensch niemals „abgeschrieben“ werden, sagt Adam. Das gebiete allein schon die in Artikel 1 des Grundgesetzes festgeschriebene Wahrung der Menschenwürde, die sich der Staat als Handlungsmaxime selbst gesetzt habe, sagt der JVA-Leiter.

Die Sicherheitsstandards in Tegel gelten, ob der einsitzenden Klientel, dennoch als hoch und rigide. Unter Kriminellen als „harter Knast“ verschrien, bemüht sich die Anstaltsleitung der JVA Tegel um eine aktive Einbindung der katholischen Seelsorge bei der Resozialisierung der Häftlinge. „Ohne den katholischen Pfarrer und seinen evangelischen Kollegen liefe hier Manches quer“, sagte ein Beamter, der seit mehr als 30 Jahren im Vollzugsdienst arbeitet. Dem pflichtete auch der Häftling Pjotr Adamek bei. „Die Sprechstunden bei Pfarrer Friedrichowicz sind bei den Häftlingen nicht nur wegen des Kaffees und der Schokolade beliebt“, sagte er. „Wenn, was häufig geschieht, Gefangene in ein mentales Loch fallen, sind die beiden Seelsorger oft die einzigen, die verhindern, dass der Betroffene sich etwas antut“, sagte Pjotr. Die Selbstmordrate unter Häftlingen ist in Tegel, im bundesweiten Vergleich, eher unterdurchschnittlich. Regelmäßig machen sich auch hohe Vertreter der Berliner Justizverwaltung, unter ihnen Senatorin Gisela von der Aue (SPD),  „vor Ort“ ein Bild von der Lage. Meldungen über Misshandlungen von Gefangenen durch Mitgefangene, mit denen andere deutsche Gefängnisse in jüngerer Vergangenheit von sich reden machten, sind in Tegel bislang kein Thema gewesen. „Wir arbeiten daran, dass dies auch so bleibt“, sagte Pfarrer Friedrichowicz. Der Besuch des Kardinals in der JVA Tegel habe gezeigt, dass die Kirche ihren Platz weiterhin dort sehe, wo Menschen am Rande der Gesellschaft stehen.

Veröffentlicht von on Apr 11th, 2011 und gespeichert unter DRUM HERUM, SONSTIGES. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

1 Antwort for “„Mit ‚böse und abartig‘ kann ich wenig anfangen“”

  1. […] „Mit ‚böse und abartig’ kann ich wenig anfangen“ | Justament11. Apr. 2011 … Über Wochen haben Pjotr und andere Insassen, die vom katholischen Anstaltsseelsorger Stefan Friedrichowicz (57) betreut werden, Lieder … Published by admin on Sep 29, 2012 under Uncategorized | Post your comment now « Sharred calendars […]

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