André Gursky sucht nach den ideologischen Wurzeln der politischen Justiz in der DDR
Thomas Claer
Dass die DDR mit all ihrer politischen Justiz und ihrem Stasi-Terror gegen Andersdenkende ausgerechnet ein Rechtsstaat gewesen sein soll? Das behaupten heute, mehr als zwei Jahrzehnte nach ihrem Untergang, wohl nur noch einige wenige unbelehrbare Altfunktionäre und -geheimdienstler sowie ein paar versprengte ehemals systemnahe Wissenschaftler. (Selbst aus der Linkspartei hört man inzwischen kaum noch solche Stimmen.) Doch bevölkert diese zahlenmäßig überschaubare – inzwischen längst ergraute – Klientel derzeit bevorzugt die Gedenkveranstaltungen in Erinnerungsstätten. Und dort lässt sie durch entsprechende Zwischenrufe und Diskussionsbeiträge regelmäßig jeden wissen, dass der Arbeiter- und Bauernstaat auch seine guten Seiten gehabt habe und alles doch längst nicht so schlimm gewesen sei, wie es heute erzählt wird. Wenn nun André Gursky, einst selbst ein politisch Verfolgter in der DDR und heute Leiter der Stasi-Gedenkstätte „Roter Ochse“ in Halle, in seiner philosophischen Dissertation sehr akribisch herausarbeitet, warum der „Rechtsstaat DDR“ selbstverständlich eine Legende ist, dann unterliegt er dabei möglicherweise einer berufsbedingten optischen Täuschung über das von den alten Stasi-Seilschaften heute noch ausgehende geistige Bedrohungspotential. Denn während er selbst vermutlich oft mit DDR-Unrechts-Leugnern konfrontiert ist, nimmt sich deren tatsächliche gesellschaftliche Relevanz wohl eher marginal aus. Zugespitzt könnte man also fragen, ob hier nicht mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird. Das mag sogar so sein. Bedenkt man aber andererseits auch die noch immer massiven Tendenzen der Verharmlosung, Beschönigung und Verklärung der DDR in breiten Schichten der ostdeutschen Bevölkerung, die Ignoranz der nachgewachsenen Jugend und die Ostalgie vieler Älterer, dann kann es eigentlich gar nicht genug Bücher wie dieses geben. Zumal sich das Werk nicht nur auf die genaue Beschreibung der Funktionsweise der politischen Strafjustiz in der DDR beschränkt, dabei auch umfangreiches, bislang kaum zugängliches Material aus den Aktenschränken der Staatssicherheit verwendet, sondern immer auch die Ebene der ideologischen Rechtfertigung im Blick hat. Deren Wurzeln verfolgt es schließlich zurück bis zu den maßgeblichen sozialistischen Theoretikern Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895).
Heraus kommt in repressionsgeschichtlicher Hinsicht so manches, wovon man sonst noch kaum gehört oder gelesen hat. So verfasste der ostdeutsche Geheimdienst parallel zum offiziellen Strafgesetzbuch der DDR als Schulungsmaterial für seine Kader an der Hochschule des MfS in Potsdam-Eiche ein separates „Stasi-StGB“ mit einem differenzierten Arsenal von Maßnahmen politischer Verfolgung, gerichtet auf die tatsächliche oder vermeintliche Feindaktivität. Überhaupt war die Staatssicherheit, so erfährt der Leser, viel mehr als nur ein ausführendes Organ der Partei, sondern die eigentliche Herrin der politischen Strafverfahren. Sie nahm sogar Einfluss auf die Formulierung von Strafgesetzen. Der etwas umständliche Titel des Buches, „Rechtspositivismus und konspirative Justiz als politische Strafjustiz in der DDR“ ist in diesem Zusammenhang so zu verstehen, dass neben das positive Recht (die geltenden Gesetze) ein umfassendes Bündel geheimdienstlicher Maßnahmen trat, die „konspirative Justiz“ der Staatssicherheit. Hier entwickelt der Verfasser seine These eines in der DDR bestehenden „nichtpositivistischen Positivismus“, was bedeutet, dass das positive Recht durchaus nicht immer galt, sondern durch konspirative Stasi-Tätigkeit jederzeit ausgehebelt werden konnte. Der Autor geht sogar so weit, den ursprünglich von Ernst Fraenkel auf das Dritte Reich gemünzten Begriff „Doppelstaat“ (bestehend aus Normen- und Maßnahmenstaat) – anders als es etwa Werkentin oder Brey tun – für die DDR abzulehnen, da es dort, vereinfacht gesagt, gar kein Strafrecht ohne Stasi-Beteiligung gegeben habe. Eine Koexistenz von Normen- und Maßnahmenstaat wie in der NS-Diktatur bis Ende der 30er Jahre habe sich die Diktatur der SED-Parteinomenklatur gar nicht leisten können (S.164). Daneben hatte die Staatssicherheit aber durchaus auch andere Tätigkeitsfelder. Besonders kurios mutet ihr gezielter Einsatz zur Erlangung von Devisen (Geldern aus dem Westen) an. Beispielsweise unterwanderten Stasi-Mitarbeiter bestehende Fluchthelfergruppen, kassierten dabei Gelder von westlichen Verwandten der Fluchtwilligen, inszenierten sodann selbst die Fluchten, um sie in letzter Sekunde scheitern zu lassen. Die inhaftierten und zu hohen Haftstrafen verurteilen Republikflüchtlinge ließ die DDR schließlich vom Westen freikaufen und gelangte so ein zweites Mal an Devisen.
Wie aber ließ sich ein solches Vorgehen und so manches Andere angesichts der „reinen Lehre“ des Marxismus-Leninismus ideologisch rechtfertigen? Ganz überwiegend schlicht nach der machiavellistischen Maxime, dass der Zweck die Mittel heiligt. Begründet wurde es allerdings mit den sich ständig wandelnden Erfordernissen des Klassenkampfes: „Was der Klasse dient, ist auch moralisch.“ So war gemäß dem Stasi-Schulungsmaterial auch die Legendenbildung des MfS, obwohl dadurch doch „die Wirklichkeit (im engeren Sinne) bewusst verdreht“ werde, „moralisch einwandfrei“, denn „belügen kann man nur denjenigen, dem man auf Grund der gleichen Klasseninteressen die Wahrheit sagen muss.“ George Orwell lässt grüßen! Und so funktionierte das gesamte Rechtssystem der DDR im Zweifel nach dem ebenfalls auf Machiavelli zurückgehenden Grundsatz „Recht ist, was dem Staate nützt“. Dazu gehörte nach Meinung der Machthaber eben auch die „Zersetzung“ von Oppositionellen. Sehr ausführlich lässt der Autor die Vertreter der DDR-Rechtsphilosophie zu Wort kommen, die weitschweifig die angebliche Überlegenheit des sozialistischen Rechts über den bürgerlichen Rechtsstaat begründen und vom „planmäßigen Ausbau der sozialistischen Rechtsordnung“ schwadronieren. Allerdings sind diese Passagen für den Leser doch auf die Dauer sehr ermüdend. Offenkundig hatten deren Verfasser bei ihren Adressaten eine Art Gehirnwäsche im Sinn, wie man sie ganz ähnlich aus bestimmten Sekten kennt. Der nur schwer erträgliche Propaganda-Jargon lässt den Rezensenten jedenfalls immer wieder aufatmen, dass dieser Spuk gottlob schon lange vorbei ist.
Viel interessanter aber ist die Frage, inwieweit sich die sozialistischen Klassiker Karl Marx und Friedrich Engels für das ganze Elend haftbar machen lassen. Schließlich gilt Marx als Emanzipations-Denker, dessen kategorischer Imperativ (anders als der von Kant) lautete, „… alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verachtetes Wesen ist.“ Dessen ungeachtet sieht der Verfasser in Marx aber einen der Hauptschuldigen an Stasi und politischer Justiz. In großer Zahl hat Gursky einschlägige Zitate zusammengetragen, die Marx vor allem als einen Denker des gewaltsamen Umsturzes ausweisen, für den das Recht ein bloßes Mittel zur Erreichung übergeordneter Zwecke ist. So bezeichnete Marx etwa die Rechtsstaatlichkeit als „dummes Zeug“ oder als „pure Illusion“. Der Autor sieht darin einen „Totalangriff auf die abendländische Vernunftinterpretation“ und konstatiert einen „Bruch mit der Moderne“. Dies ist sicherlich der problematischste Teil des Buches, denn mit zumindest gleicher Berechtigung lässt sich Marx nun einmal auch als Gründervater der Sozialdemokratie und Wegbereiter vieler anderer gemäßigter sozialer Protestbewegungen ansehen. Was für Gursky aber zählt, ist die große Übereinstimmung, die er zwischen den Schriften des Karl Marx und der Ideologie der DDR-Staatssicherheit zu erkennen glaubt. Der Autor sieht Marx und Engels unter Hinweis auf ihre konspirative Arbeit beim Aufbau einer kommunistischen Partei Mitte des 19. Jahrhunderts sogar als Begründer der proletarisch-revolutionären Konspiration an (S.192).
Alles in allem lässt sich somit an dieser sehr fundierten und informativen Studie lediglich eine gewisse Einseitigkeit des Autors in der Interpretation seines so reichhaltig zusammengetragenen Quellenmaterials bemängeln. Dass es in der DDR, anders als während der Stalin-Ära in der UdSSR, nämlich sehr wohl Grenzen der staatlichen Willkür gab, mag das folgende, ebenfalls dem vorliegenden Buch entnommene Zitat des damaligen Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke, verdeutlichen: „Wenn wir nicht gerade jetzt hier in der DDR wären – ich will Euch das ganz ehrlich sagen, damit ihr wisst (…) – wenn ich in der glücklichen Lage wäre wie in der Sowjetunion, dann würde ich einige erschießen lassen“ (Rede um 1982 vor Mitarbeitern der Staatssicherheit).
André Gursky
Rechtspositivismus und konspirative Justiz als politische Strafjustiz in der DDR
Verlag Peter Lang, Frankfurt a.M. u.a. 2011
462 Seiten, EUR 74,80
ISBN 978-3-631-61307-8