Der Ernst des Lebens

Justament-Klassiker: Pinars Tagebuch, Dezember 2007

Aus dem Tagebuch einer Rechtsreferendarin

Liebes Tagebuch,

letzte Woche war ich sehr traurig. Mein allererster offizieller Arbeitstag in meiner ersten Anwaltsstation fiel tatsächlich auf meinen Geburtstag. Daran merkte ich, dass ich jetzt wirklich erwachsen und offiziell alt bin. Schließlich habe ich mir sonst an meinem Geburtstag immer frei genommen und etwas Tolles gemacht. Meistens einen kleinen Kurzurlaub, einen Tag im Holiday Park oder auch einen Tag im Erlebnisbad. Das Tolle daran war, dass „Geburtstagskinder“ keinen Eintritt zahlen mussten. Na ja, nach jahrelangem Studium musste der Ernst des Lebens irgendwann ja doch beginnen. Prompt kam ich auch noch an meinem ersten Arbeitstag zu spät, weil der Lokführerstreik natürlich auch genau an diesem Tag beginnen musste.
An meinen neuen Arbeitsplatz habe ich mich sehr schnell gewöhnt und mit netten Kollegen lässt es sich eigentlich immer ganz gut aushalten. Sogar mein Chef ist irgendwie nett, wenn er mich nicht ständig mit seiner Sekretärin oder persönlichen Assistentin verwechseln würde. Diese Woche sollte ich ihm ein unleserliches Fax abtippen, damit er es richtig lesen kann. Man konnte das Fax ohne weiteres lesen, es hatte lediglich eine etwas schlechte Qualität. Das nennt sich Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Warum sollte man die Referendarin auch früher heim schicken, nur weil es keine Arbeit mehr gibt? Aber schlimmer geht immer. Wenn ich in Richtung des Praktikanten, einem Jurastudenten am Nachbartisch schaue, kann ich mir mein Grinsen kaum verkneifen. Ich weiß nicht, ob es Schadenfreude ist oder ob es einfach nur an seinem verzweifelten genervten und gleichzeitig verärgert wirkenden Blick liegt. Der muss nämlich Zeitschriften verschicken und muss für jede einzelne Zeitschrift ein Anschreiben verfassen, die Zeitschrift eintüten und zu guter Letzt die Briefmarke anlecken und draufkleben. Meine liebe Vorgängerin, die ich durch Zufall kennen gelernt habe, musste für den Chef sogar einkaufen gehen. Also wenn er bei mir mit so etwas kommt, dann geige ich ihm die Meinung, das habe ich mir zumindest fest vorgenommen. Und dann Frau K… Anfangs fand ich sie sehr nett. Sie bat mich gelegentlich kleine Arbeiten für sie zu verrichten, die ich auch gerne tat. Doch plötzlich änderte sich ihr Tonfall von „Könnten Sie bitte…“ oder „Falls Sie kurz Zeit haben…“ zu „Machen Sie das fertig“ und „Ich brauche das bis spätestens…“ Das Problem dabei war, dass sie am Mittwochmittag mit umfangreichen Aufgaben kam, die bis Freitag erledigt werden mussten, aber ich nur von Montag bis Mittwoch da bin. Auf meinen Hinweis, dass ich deshalb ihre Arbeiten nicht schaffen kann, reagierte sie zunächst verständnisvoll. Leider muss sie damit aber später zu meinem Chef gerannt sein. „Pinar, wenn sie Frau K. um etwas bittet, dann können sie das ruhig erledigen und brauchen sich nicht zu schade dafür zu sein“, schnauzte dieser mich an. In der nächsten Woche werde ich nun von meiner juristischen Arbeit abkommandiert, nur um Frau K.`s Aufsätze zu korrigieren. Jemand, dem ich das erzählte, meinte, dass es bei der heutigen Arbeitsmarktlage eigentlich dazu gehört, auch andere fachfremde Dinge zu erledigen. Und ob meine Einstellung nicht überheblich ist. Ich weiß es nicht. Ist meine Erwartungshaltung überzogen? Habe ich die Arroganz von Juristen, die ich ihnen immer angekreidet habe, nun mir selbst angeeignet? Aber kann ich nicht erwarten, in meiner Ausbildungsstation auch tatsächlich ausgebildet zu werden und keine Sekretärinnentätigkeit machen zu müssen?

Veröffentlicht von on Juni 11th, 2012 und gespeichert unter LIEBES TAGEBUCH, PINAR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

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