Miss Marple auf Mörderjagd
Katharina Stosno
Denke ich an Miss Marple, so werden bei mir gleich Kindheitserinnerungen wach. Nicht etwa, weil ich eine neugierige Oma gehabt hätte, sondern weil ich mit ungefähr zehn Jahren sämtliche Agatha-Christie-Krimis gelesen und sowohl Hercule Poirot als auch Jane Marple in mein kriminalistisches Herz geschlossen hatte. Ich mochte nicht nur die Buchversionen, sondern auch die Verfilmungen, und das ist ja oft nicht selbstverständlich, da man den Charakteren in seiner Fantasie bereits ein Leben eingehaucht hat, welches in Konkurrenz zu dem der Filmfiguren steht.
Jedenfalls gelingt es mir nicht, an Jane Marple zu denken, ohne gleichzeitig Margaret Rutherford vorm geistigen Auge zu haben, die Titelmelodie im Ohr zu hören und im Takt mit zu wippen – ganz in Erwartung eines neuen Verbrechens, das es aufzudecken gilt! Auch wenn meine Kindheit schon ein paar Jahre zurück liegt und die Erstveröffentlichung der Miss-Marple-Krimis noch ein paar weitere Jährchen her ist, so hat diese etwas schrullige und doch scharfsinnige britische Detektivin in meinen Augen nichts an Charme eingebüßt. Und bevor ich es mir so richtig durch den Kopf gehen lassen kann, entscheide ich mich ganz auch dem Bauch heraus dafür, den Zug um 16 Uhr 50 ab Paddington zu nehmen und mich auf Rezensionsreise zu begeben. Werde ich dabei auch auf überraschende Entdeckungen stoßen? So zum Beispiel wie die nette alte Mrs McGillicuddy, die während einer Zugfahrt beobachtet, wie in einem vorbeifahrenden Zug ein Mann eine junge Frau erdrosselt?
Zunächst halten alle die Beschreibung für die blühende Fantasie einer alten Dame, der das Reisen nicht bekommt. Das Ganze wirkt höchst mysteriös, vor allem, da weder im Zug, noch auf der Bahnstrecke eine Leiche gefunden und auch keine Person als vermisst gemeldet wird. Niemand schenkt Mrs McGillicuddy Glauben – niemand, bis auf ihre gute alte Freundin Jane Marple. Diese wittert das Verbrechen unweit des Anwesens von Rutherford Hall. Dort wohnt der geizige Hausherr Mr Crackenthorpe zusammen mit seiner Tochter Emma, die sich rührend um ihren alten, herzschwachen Vater kümmert. Zu seinen Söhnen hat der alte Crackenthorpe ein eher gespanntes Verhältnis – er ist der festen Überzeugung, sie warteten nur auf sein Ableben, um an das beträchtliche Erbe der Crackenthorpe-Familie zu gelangen.
Da Miss Marples Gesundheit es nicht zulässt, selbst aktiv auf Mörderjagd zu gehen, bittet sie ihre Bekannte, Miss Eyelesbarrow um einen Auftrag „höchst ungewöhnlicher Art“: Miss Eyelesbarrow, die sich in der gehobenen Gesellschaft einen hervorragenden Ruf als exzellente Hauswirtschafterin erarbeitet hat, soll um eine Anstellung in Rutherford Hall werben und so heimlich, still und leise die Leiche der im Zug Ermordeten ausfindig machen. Und so kommt es, wie es kommen muss: Lucy Eyelesbarrow schleicht sich auf Rutherford Hall ein, eine Leiche wird gefunden, ebenso schnell eine verdächtige Person. Auf eine Leiche folgt die nächste und Agatha Christie gelingt es meisterhaft, durch ihre Erzählweise jeden Charakter verdächtig zu halten, jedenfalls so lange, bis er gestorben oder als Mörder überführt ist.
Die Spannung hält sich bis zur letzten Seite, und was ich noch erstaunlicher finde: Ich hatte keine Ahnung, wer der Mörder sein könnte, und das, obwohl ich das Buch wie schon erwähnt vor ein paar Jahren – okay, ich gebe zu: vor ein paar mehr Jahren – schon einmal gelesen hatte. Und so war der Schluss dann auch ziemlich überraschend. Genauso überraschend wie die Entdeckung, dass in der Buchversion, anders als in der Verfilmung, der beliebte Mr Stringer fehlt. Er stammt nämlich nicht aus der Feder von Agatha Christie, sondern wurde auf Wunsch von Margaret Rutherford ins Drehbuch hineingeschrieben. Bei Mr Stringer handelt es sich nämlich um keinen weiteren als den Ehemann der Hauptdarstellerin…Wer hätte das gedacht?
Mein Fazit: Wer ausgeklügelte Kriminalgeschichten, alte britische Ladies und britischen Humor liebt, der kommt um Miss Marple nicht herum und sollte sich ab und an bei einer Tasse Five-o-clock-tea einen Schuss Marple-Spannung genehmigen.
Agatha Christie
16 Uhr 50 ab Paddington
3. Aufl. Fischer Taschenbuch Verlag 2011
256 Seiten, € 7,95
ISBN-10: 3596171407