Meine erste West-Zeitung

Justament-Autor Thomas Claer gratuliert „seiner“ Süddeutschen Zeitung zum 80. Geburtstag

Es muss wohl im Herbst 1987 gewesen sein, als ich überglücklich während unserer Schulabschlussfahrt in einem Hotel in Minsk (damals Belorussische Sozialistische Sowjetrepublik) meine erste Süddeutsche Zeitung in den Händen hielt. Zugleich war es auch meine erste westliche Tageszeitung überhaupt, denn Printprodukte aus dem Westen waren für uns in der DDR seinerzeit schwer zu bekommen. Ich war damals 15 Jahre alt, und mir waren immerhin schon zwei Micky-Maus-Ausgaben, mehrere Kicker-Sonderhefte und einige Bravo-Zeitschriften von Besuchern unserer Familie aus dem Westen heimlich mitgebracht worden. Aber eine richtige Tageszeitung mit politischen Inhalten wäre natürlich noch weitaus gefährlicher gewesen, wenn man sie beim Grenzübertritt entdeckt hätte. Daher konnte ich als aufgeweckter und interessierter Ost-Jugendlicher von richtigen West-Zeitungen lange Zeit nur träumen.

Heute kann es sich niemand mehr vorstellen, aber es gab damals für uns in der DDR wirklich kaum etwas Interessantes zu lesen. Mit den überaus langweiligen DDR-Zeitungen war ich meist schon nach höchstens zehn Minuten fertig, denn außer dem Sportteil gab es darin wirklich nur ungenießbare gestelzte Staatspropaganda. Bücher aus dem Westen, die irgendwer über die Grenze geschmuggelt hatte, wanderten von Hand zu Hand, wurden immer weiter verliehen. Selbst vorgeblich linientreue Lehrer in meiner Schule borgten sich von mir Westbücher von Hoimar v. Ditfurth und Erich v. Dänicken aus, die ich wiederum selbst von einer Freundin meiner Mutter entliehen hatte. Aber politische Zeitschriften blieben zu jener Zeit zumindest für mich unerreichbar – bis in der Sowjetunion Glasnost und Perestroika ausbrachen und wir unsere Abschlussfahrt in der 10. Klasse just ins Land des „Großen Bruders“ unternahmen.

Es kam für mich dann völlig überraschend. Nicht im Mindesten hatte ich damit gerechnet, dass im Hotel „Jubilejnaja“ in Minsk, in dem wir abstiegen – es existiert laut KI-Recherche noch heute – an der Rezeption westliche Zeitungen und Zeitschriften aus diversen Ländern und in unterschiedlichen Sprachen auslagen. Ich traute meinen Augen kaum und fragte dann schüchtern, ob man die auch kaufen könne. Ja, natürlich, bekam ich zur Antwort. Also griff ich entschlossen zu und erwarb mit meinen eingetauschten Rubeln und Kopejken die einzigen beiden vorhandenen deutschsprachigen Printprodukte: eine Süddeutsche Zeitung und einen „Vorwärts“, die SPD-Parteizeitung. Dazu nahm ich sicherheitshalber auch gleich noch ein „Algemeen Dagblad“ aus Amsterdam und einen „Dagens Nyheter“ aus Stockholm. Wer wusste denn, ob sich jemals wieder eine solche Gelegenheit bieten würde?

Anschließend zog ich mich zurück – und las und las und las. Innenpolitik, Außenpolitik, politische Kommentare, Reportagen, Feuilleton und Wirtschaftsteil bis hin zum Sportteil – all das war für mich wie eine Offenbarung. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich meine erste Süddeutsche an diesem und den folgenden Tagen von vorne bis hinten komplett durchgelesen, vieles davon auch mehrmals. Mit dem „Vorwärts“ verfuhr ich ebenso. Die beiden fremdsprachigen Zeitungen vermochte ich allerdings nur häppchenweise zu bewältigen. Da ich zumindest von den zwei deutschsprachigen Presseerzeugnissen das einzige vorhandene Exemplar ergattert hatte, konnte auch niemand anders unter meinen Mitschülern oder Lehrern hier zum Zuge kommen. Doch deren Interesse daran hielt sich erstaunlicherweise auch in Grenzen. Nur ein einziger Mitschüler, der heute in Köln wohnt und bei der Bundeswehr tätig ist, bat mich darum, ihm meine Süddeutsche und meinen „Vorwärts“ mal auszuleihen. Unsere Lehrer, die vermutlich interessiert gewesen wären, hatte ich zur Sicherheit nicht eingeweiht, denn womöglich hätten sie mir die in der DDR ja schließlich illegalen westlichen Printmedien sogleich wieder abgenommen – trotz deren ganz legalen Ankaufs in der „ruhmreichen Sowjetunion“. Zum Glück hat mich auch niemand von meinen Mitschülern bei ihnen verpetzt. Es hat sie, glaube ich, aber auch einfach nicht sonderlich interessiert…

Am nächsten Tag im Hotel lief ich neugierig zur Rezeption um nachzusehen, ob da vielleicht wieder eine tagesaktuelle Süddeutsche oder vielleicht noch etwas anderes Interessantes liegen würde. Da lag aber nichts, was dort nicht auch schon am Vortag gelegen hatte. Auch an den kommenden Tagen änderte sich daran leider nichts – aber ich war ja schon bestens versorgt und hatte weit mehr bekommen, als ich auch nur zu hoffen gewagt hätte. So nahm ich dann also meine gedruckten Schätze frohgemut mit zurück in die DDR und zeigte sie meiner erstaunten Mutter. (Mein Vater lebte damals bereits im Westen, und erst anderthalb Jahre später, als unserem Ausreiseantrag endlich entsprochen wurde, sollten wir ihn wiedersehen.) Noch eine weitere hochspannende Lektüre hatte ich damals aus der Sowjetunion mitgebracht: Im Zug lag eine kleine Broschüre in verschiedenen Sprachen aus, darunter auch auf Deutsch. Das war eine Ansprache des Vorsitzenden der KPdSU in der Region Moskau über „Weitreichende Anstrengungen zum Umbau der Sozialistischen Gesellschaft“. Sein Name war mir bis dahin noch nicht bekannt gewesen. Er lautete: Boris Jelzin.

Überhaupt waren die Anzeichen des Wandels während unseres Aufenthalts im Land der Oktoberrevolution überall mit Händen zu greifen. Als unsere Reiseleiterin im Bus nach der Stadtrundfahrt wissen wollte, ob noch jemand von uns eine Frage hätte, nahm ich all meinen Mut zusammen und erkundigte mich nach ihrer Meinung über „Glasnost und Perestroika“. Daraufhin lächelte sie und erklärte uns, dass sie in Minsk „Glasnost und Perestroika“ alle sehr lieben würden. Dass aber schon zwei Jahre später das Ende der DDR eingeläutet werden würde, das konnte sich damals natürlich noch niemand vorstellen.

Es dauerte dann auch noch mehrere Jahre, bis ich meine zweite Süddeutsche Zeitung las. Nach unserer Ausreise aus der DDR zu meinem Vater nach Bremen im Mai 1989 begnügte ich mich zunächst mit dem „Weserkurier“, den meine Eltern nun abonniert hatten, und kaufte mir ab und zu einen SPIEGEL dazu. Erst nach dem Abitur und den ersten Semestern meines Studiums in Bielefeld schlossen meine heutige Frau und ich ein Probe-Abo für die Süddeutsche ab, die uns fortan täglich ins Studentenwohnheim geliefert wurde. Seitdem, es war wohl etwa 1996 oder 1997, sind wir nie mehr von ihr losgekommen und verbringen täglich jahraus, jahrein mehrere Studen mit Zeitunglesen. Wollte man mich umbringen, dann müsste man mir meine tägliche Süddeutsche Zeitung wegnehmen. Daher gratuliere ich voll Dankbarkeit „meiner“ SZ ganz herzlich zum 80. Geburtstag.

P.S.: Diesen Text habe ich vor zwei Monaten auch bei der Süddeutschen Zeitung eingereicht, aber leider wurde er nicht genommen. Immerhin erhielt ich vorgestern von einer Redakteurin eine sehr freundliche Absage. Oftmals ist ja die einseitige Liebe am unerschütterlichsten…

Veröffentlicht von on Okt. 6th, 2025 und gespeichert unter DRUM HERUM, RECHT HISTORISCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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