Der Konflikt um die Krim ist nur vordergründig eine Frage nationaler Identität. In Wirklichkeit verbirgt sich dahinter der in Russland vielerorts gescheiterte Transformationsprozess nach dem Zusammenbruch des Kommunismus
Benedikt Vallendar
Moskau / Kaliningrad – 14.000 Rubel, umgerechnet dreihundert Euro zeigt das Display des Bankautomaten an. „Mein Lohn für Februar“, sagt Tatjana (27), die in Gwardejsk als Lehrerin arbeitet. Die Kleinstadt Gwardejsk liegt in der russischen Enklave Kaliningrad zwischen Polen und Litauen und hieß bis zum Einmarsch sowjetischer Truppen im April 1945 Tapiau. Sie ist die Geburtsstadt des spätimpressionistischen Malers Lovis Corinth, dessen Elternhaus heute ein kleines Museum beherbergt. Das Stadtbild zeugt von deutscher Vergangenheit, derweil die kyrillischen Buchstaben an Geschäften und Bushaltestellen wie historische Mahnmale wirken. Auch hier liegen Russlands Interessen, mitten in Europa und weitab der Krisenherde auf der Krim und in der Ukraine.
Doch allein der Blick auf Tatjanas Gehaltsabrechnung zeigt, dass im Reich des Wladimir Putin auch vieles im Argen liegt; wenn etwa akademische Arbeit mit dem Salär eines illegalen Orangenpflückers auf Sardinien entlohnt wird, und das bei Preisen wie auf der Frankfurter Zeil; indes der in Russland gern zur Schau gestellte Reichtum meist nur vordergründig existiert. Denn das Millionenheer der Menschen, die sich, drei Jahrzehnte nach dem Ende des Kommunismus, perspektivlos von einem 140-Eurojob zum nächsten schlagen, ist in den letzten Jahren eher gewachsen als gefallen, was Regierungsvertreter als Beleg für einen „flexiblen Arbeitsmarkt“ werten. „Immerhin, vor drei Jahren haben sie uns noch fast achtzig Euro weniger gezahlt“, sagt Tatjana, nachdem sie ihren aktuellen Kontoauszug überflogen hat. In Sankt Petersburg und Dresden studierte die Pädagogin bis vor drei Jahren Germanistik und arbeitet seither im russischen Schuldienst. Anfangs war sie nur Aushilfslehrerin an einer Mittelschule. Bis sie die Stelle am Lyzeum bekam, das in etwa einem deutschen Gymnasium entspricht. „In Kaliningrad können Schüler inzwischen auch Deutsch belegen, neben Englisch und Französisch“, sagt Tatjana. Das war ihre Chance. Andernfalls hätte sie sich wahrscheinlich anderweitig über Wasser halten müssen, wie die meisten ihrer Studienkollegen; und wie die meisten der eine Million Bewohner Kaliningrads, die im kleinen Grenzverkehr nach Polen und Litauen noch immer Schnaps und Zigaretten schmuggeln. Meist mangels Alternativen; und daher auch keine Arbeitslosenstatistik behelligen. „Die Regierung verschweigt, dass sich die meisten ihrer Bürger weitgehend orientierungslos durchs Leben schlagen“, sagt Tatjana. Kaum einer käme in Russland auf die Idee, sich aufwändig arbeitslos zu melden, um dann für ein halbes Jahr monatlich zwanzig Euro staatliche Unterstützung zu kassieren, sagt sie. Die meisten Russen reiben sich die Augen, wenn sie hören, dass in der Bundesrepublik Hartz IV-Empfänger knapp 800 Euro im Monat zum Leben bekommen, ohne dafür arbeiten zu gehen. In Russland entspräche das dem Durchschnittsgehalt eines stellvertretenden Abteilungsleiters, sagt Tatjana. Zwar seien Löhne und Renten heute höher als in der Ära Jelzin, doch könnten diese kaum mit den steigenden Preisen mithalten, sagt sie.
Minieinkäufe im Discounter
Und damit teilt Tatjana das Problem der meisten russischen Familien: Zwar gibt es in dem Riesenreich längst alles zu kaufen. Doch noch immer verhältnismäßig wenige Bürger sind imstande, Waschmaschine, Kleinwagen oder Möbelgarnitur nach kurzer Ansparphase aus ihrem laufenden Gehalt zu bezahlen. Was auch den hohen Preisen für überwiegend importierte Konsumgüter geschuldet ist. Nur wenige wissen, dass selbst Frischgemüse, Obst und Blumen in Russland nur in Ausnahmefällen aus heimischer Produktion stammen, sondern, über langjährige Lieferverträge abgesichert, tagtäglich pünktlich aus den Niederlanden auf die Großmärkte des Landes geflogen werden, um von dort aus ihre Reise in das übrige Riesenreich anzutreten – erhebliche Preisaufschläge inbegriffen.
Doch die schöne bunte Warenwelt des Kapitalismus, die längst auch in Russland ihre Blüten treibt, hat beileibe nicht alle Bürger erreicht. Allein der Blick in einen russischen Supermarkt, wo die Kunden das abgezählte Münzgeld mit verstohlenem Blick auf den Plastiktresen legen, zeigt, wie bröckelig die Fassade ist, hinter der Wladimir Putin sein „einiges Russland“ regiert. Um der Jugend wenigstens das Gefühl von Hoffnung zu vermitteln, rief der ehemalige KGB-Offizier 2005 die Massenbewegung „Naschi“ (zu Deutsch: „die Unseren“) ins Leben, die nach eigenen Angaben mehr als 100.000 Mitglieder zählt und als regierungsnahe Reservearmee für spektakuläre Fernsehauftritte fungiert. Und dennoch: Fast dreißig Jahre nach Gorbatschows innenpolitisch bis heute umstrittener Perestroika-Politik hat Russland nur scheinbar den Sprung in die erste Welt geschafft. Inflation ist in der rückständigen Wirtschaft ein bis heute ungelöstes Problem, Bürokratie, Rechtsunsicherheit und Korruption noch immer ernst zu nehmende Investitionshemmnisse. Bei Ausbruch der Krimkrise Ende Januar 2014 fiel der Rubel auf einen Tiefststand, von dem er sich bis heute nicht erholt hat. Die jüngsten Ereignisse zeigen, wie schnell sich internationale Anleger aus dem russischen Markt zurückziehen, sobald dort ein Unruheherd aufkeimt, auch wenn sich dieser außerhalb des eigenen Territoriums befindet. Wie sehr Russland, aller regierungsfreundlichen Publicity zum Trotz, im gesellschaftspolitischen Schockzustand verharrt, zeigt auch seine Abwehrhaltung gegenüber ausländischen Hilfswerken, die in Russland seit 2008 nur mehr unter staatlicher Aufsicht arbeiten dürfen; doch ohne die das russische Sozialsystem vielerorts zusammengebrochen wäre, was auch die Behörden wissen, die sich scheuen, die ausländischen Helfer des Landes zu verweisen. Vor allem Renovabis, das im bayrischen Freising beheimatete Hilfswerk der Kirche für Osteuropa, ist den russischen Behörden seit langem ein Dorn im Auge. Dass die einst besiegten Kriegsgegner nun als finanziell potente Wohltäter auftreten, Seniorenheime, Krankenstationen und sogar Kirchen errichten, rührt in offenen Wunden und passt so gar nicht in die offizielle Propaganda vom drohenden Faschismus, der sich, aus der Ukraine und dem Westen kommend, der „Nation“ bemächtigen will. Mit fast schon gieriger Dankbarkeit stürzt sich die Entourage um Präsident Wladimir Putin daher auf Krisenherde wie jüngst auf der Krim, um ihre heimatverbundenen Landsleute aus der Reserve zu locken. In der Hoffnung, dass die sich wenigstens für einen Augenblick Sand in die Augen streuen lassen und nationales Ehrgefühl unweit höher wiegt als der tagtägliche Kampf um Essen, Trinken, Ausbildung und eine funktionierende Heizung.
Alltagssorgen dominieren das Denken
Nicht immer geht diese Rechnung auf: Wer sich auf der Krim umhört, der merkt schnell, dass vielen Menschen die politische Zugehörigkeit ihrer Halbinsel im Grunde gleichgültig ist. Die meisten sind froh, wenn sie im Sommer Obst für den Winter einkochen können, die Fenster auch bei minus dreißig Grad nicht zerbersten und sie alle gesund bleiben, um nicht auf die meist unbezahlbaren Medikamente angewiesen zu sein.
Die immer wieder kolportierte Bedrohung der Krimbewohner durch „braune Horden“ hat sich als von Moskau ferngesteuertes Politmärchen entpuppt, das die Menschen von ihren wahren, meist materiellen Sorgen ablenken soll. Und das im gesamten russischen Sprachgebiet. „Das Säbelrasseln um die Krim und auch das jüngste Referendum wirken wie Wodka, mit dem sich in Russland noch immer viele Alltagssorgen wegspülen lassen“, sagt eine amerikanische Historikerin, die namentlich nicht genannt werden möchte. Sie hat den politischen Umbruch in der früheren Sowjetunion seit Beginn der neunziger Jahre in zahlreichen Zeitzeugengesprächen dokumentiert. Die Auseinandersetzung um die Krim mache weder wirtschaftlich noch politisch Sinn, sagt sie, da sich Russen und Ukrainer kulturell sehr ähnlich seien und eine friedliche Lösung beiden Seiten zupass käme. „Doch mit dem aktuellen Politzirkus haben die Mächtigen mal wieder ein geeignetes Mittel gefunden, um die nach wie vor ungelösten Probleme des Landes für einen Augenblick hinter einer Nebelwand verschwinden zu lassen“, sagt die Professorin für osteuropäische Geschichte. Und nicht wenige Bürger, vor allem junge Männer und Ex-Häftlinge ohne Schul- und Berufsabschluss, lassen sich dankbar vor Putins Karren spannen; wohl auch, um Aggressionen abzubauen, die sie andernfalls im Alkohol ertränken würden. Und nicht selten wieder im Gefängnis landen.
Holzofen und Außentoilette
Die bunt glitzernden Innenstädte von Moskau, Minsk oder Kiew dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dort bis heute keine sich selbst tragende Mittelschicht nach westlichem Muster gibt. Eine solche taucht allenfalls in regierungsnahen Medien auf, wenn schöne Bilder, unter blauem Himmel mit jungen Menschen den Eindruck von Wohlstand und technischem Fortschritt vermitteln. Doch allenfalls beim Gebrauch des Internets und der Versorgung mit Mobiltelefonen kann sich Russland an westlichen Maßstäben messen; derweil die Zustände auf dem Land noch immer jenen zu Beginn des 18. Jahrhunderts gleichen, als die Menschen ihr Dasein in windzerfurchten Katen mit Holzofen, Kleingarten und Außentoilette ohne Wasserspülung fristeten.
Moskau und die Militärs
„Der Transformationsprozess in den früheren Sowjetrepubliken ist nach dem Sturz des Kommunismus vielerorts in einer Sackgasse gelandet“, sagt die bereits erwähnte amerikanische Professorin. In den meisten Regionen sei er, vollmundiger Propaganda und schlecht informierter Journalisten aus dem Westen zum Trotz, wohl niemals richtig in Gang gekommen, sagt sie. Und kaum einer unter Russlands Intellektuellen hat die Hoffnung, dass sich daran je etwas ändern könnte. Im Gegenteil: Auf dem international anerkannten Wohlstandsindex HDI (Human Development Index) belegte Russland im vergangenen Jahr Platz 55, weit abgeschlagen vor Deutschland, das auf dem fünften landete, noch vor der Schweiz und Belgien. Bis heute ist Russland ein insgesamt rückständiges Land, beschränkt sich sein Wohlstand auf wenige Städte und Stadtviertel, das Militär und ein relativ gut ausgebautes Netz an Überlandstraßen, das in den vergangenen Jahren kontinuierlich erweitert wurde.
Das weiß auch die Bevölkerung, die es der Regierung dankt, wenn sie ihrem Frust über den oft tristen Alltag anderweitig Luft machen kann; und wenn es das lautstarke Geplänkel über eine wirtschaftlich unterentwickelte Landzunge am Schwarzen Meer ist, wo allein die Armee ihre Interessen verletzt sieht und PR-Agenturen im Auftrag der russischen Regierung nationalistische Kampagnen initiieren. „Der aktuelle Konflikt um die Krim ist nur vordergründig eine Frage nationaler Identität“, ist Pater Eduard Prawdzik SVD überzeugt, der mehrere Jahre als Berater für kirchliche Sozialprojekte in Russland gearbeitet hat. Im Grunde verberge sich dahinter die Bankrotterklärung der Regierung für ungelöste Probleme, unter denen das Land und seine Bewohner leiden, sagt der Steyler Missionar.
In der Tat: Bis heute ist Moskau der Bevölkerung eine Erklärung dafür schuldig geblieben, weshalb die Verhältnisse in den meisten Krankenhäusern noch immer so sind wie zum Ende des 19. Jahrhunderts; weshalb alljährlich Hunderte junger Rekruten nach wenigen Wochen Armeedienst Selbstmord begehen und noch immer zwei einfache Diebstähle genügen, um für Jahre in einem Arbeitslager zu verschwinden. Davon kann auch Tatjana berichten. Einer ihrer Schüler, der aus schwierigen familiären Verhältnissen stammte, hatte ein altes Auto geklaut und war dafür, ohne Gnade, zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt worden. „Bei seiner Entlassung glich er auf merkwürdige Weise unserem Land“, sagt Tatjana: Einem durch Gewalterfahrungen gezeichneten Kampfroboter, der vergessen hatte, dass sich Konflikte auch friedlich, will sagen auf diplomatischem Parkett beilegen lassen.