Mit neuem Material zur Geschichte der Roten Armee Fraktion (RAF) ist Stefan Austs Bestseller „Der Baader Meinhof Komplex“ 2017 als Neuauflage erschienen
Benedikt Vallendar
Hamburg – Zu glauben, über die Rote Armee Fraktion (RAF) sei bereits alles gesagt worden, ist falsch. Denn noch immer sind die Köpfe der so genannten „dritten“ RAF-Generation auf der Flucht. Daniela Klette, Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg machen Ermittler für Morde, Sprengstoffanschläge und Raubüberfälle in den achtziger und neunziger Jahren verantwortlich. Zuletzt im Sommer 2016 hinterließ das Trio bei Straftaten in Norddeutschland genetisches Spurenmaterial. Wo und wie die drei RAF-Veteranen leben ist der Polizei – zumindest offiziell – ein Rätsel.
Bis heute verbirgt sich die im April 1998 offiziell aufgelöste Rote Armee Fraktion hinter einem Nebelschleier, der sich nur hin und wieder zu lüften scheint. Licht in die Geschichte der RAF zu bringen, hat sich Autor Stefan Aust schon in jungen Jahren zur Lebensaufgabe gemacht. 1985 erschien sein Buchklassiker „Der Baader Meinhof Prozess“, dessen preisgekrönte Verfilmung 2008 gar für den Oscar nominiert war.
Linkes Lebensgefühl
Vor wenigen Wochen hat der ehemalige Spiegel-Chefredakteur seinen „Baader Meinhof Komplex“ als Neuauflage veröffentlicht und auf rund hundert Seiten mit neuem Material ergänzt. Mit Akribie und sachlicher Distanz, wie man es von Stefan Aust gewohnt ist, beschreibt der passionierte Pferdezüchter darin die Geschichte des bundesdeutschen Linksterrorismus, der mit der so genannten „Studentenbewegung“ seinen Anfang genommen hatte. Das in Medien und Literatur immer wieder zitierte Jahr 1968 bildet für Aust den Höhepunkt einer aus den USA kommenden Protestwelle, die über Frankreich nach Westdeutschland und dort vor allem an die Freie Universität in West-Berlin geschwappt war. Ein gewisser Alfred Willi Rudolf Dutschke avancierte Ende der sechziger Jahre auf dem Campus Dahlem zum Bürgerschreck und Medienstar. Später promovierte er in Soziologie, mit einer Arbeit über Lenin und die russische Revolution. „Doch so originell und genial, wie viele glaubten, war Dutschke im Grunde gar nicht“, meint die Potsdamer Historikerin Jenny Krämer. Der selbst ernannte Studentenführer, gelernter Industriekaufmann und erfolgreicher DDR-Hochspringer war mehr Schaumschläger als ernst zu nehmender Politiker, meint Krämer, ein studentischer Heißsporn, aus dem Journalisten das machten, was er in Wahrheit gar nicht war. Auch der spätere RAF-Mitbegründer Andreas Baader konnte mit Dutschkes pseudowissenschaftlichen Redebeiträgen wenig anfangen. Für die Achtundsechzigerstudenten hatten Baader und die RAF nur Verachtung übrig. „Baader war ein Mann der Tat, einer, dem die Knarre näher saß als der Füllfederhalter und das Rednerpult“, beschreibt Stefan Aust den Ahnherr der Roten Armee Fraktion, der selbst noch als Gefangener in Stuttgart-Stammheim die Fäden in der Hand hielt. In geheimen Kassibern, hin- und her geschmuggelt durch linke Anwälte, die sich der RAF angedient hatten, gab Baader Befehle an seine in Freiheit verbliebenden Kombattanten, die diese mit preußisch soldatischer Tugendhaftigkeit befolgten.
Weitreichende Netzwerke
Stefan Aust hat die erste Garde der RAF noch persönlich gekannt. Als sich die Gruppe im Mai 1972 mit Anschlägen auf Polizisten und Redaktionsgebäude des konservativen Axel-Springer-Verlages ins Abseits bombte, laborierte Dutschke, der verunglückte Politclown und Dauerstudent weiter an den Folgen des Revolverattentats auf ihn vier Jahre zuvor. Der Anschlag markierte einen Wendepunkt in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Denn die spätere RAF sah darin ein Fanal, um dem Staat den Krieg zu erklären. Gleichwohl dieser erst richtig begann, als Baader und Co im Gefängnis auf ihren Prozess warteten und sich draußen neue Sympathisanten um sie scharrten.
In seiner Neuauflage geht Aust ausführlicher als in den beiden Auflagen zuvor auf die persönlichen Geschichten und Motivlagen der Täter ein, etwa auf die des nach einer gescheiterten Ehe hochverschuldeten Karl-Heinz „Kalle“ Ruhland, der den Weg zur RAF fand, weil er auf pekuniäre Beteiligung an den Beutezügen, vornehmlich bestehend aus Banküberfällen hoffte. Ebenso wurde das Buch um bislang unveröffentlichtes Fotomaterial ergänzt, etwa von der Befreiung der Lufthansamaschine „Landshut“ im Sommer 1977 auf dem Flughafen von Mogadischu durch deutsche Spezialkräfte. Die RAF höchst persönlich hatte die Kaperung bei einer palästinensischen Terrororganisation in Auftrag gegeben, um in Deutschland einsitzende Gesinnungsgenossen freizupressen. Doch wer geglaubt hatte, mit der heldenhaften Geiselbefreiung sei der Spuk um die RAF beendet gewesen, sah sich schon bald eines Besseren belehrt. In den Folgejahren setzen die RAF-Adlaten Christian Klar, Peter-Jürgen Boock und Brigitte Mohnhaupt mit Morden, Banküberfallen und Kontakten zur DDR-Staatssicherheit das Erbe Baaders fort.
Wer die Komplexität und Hintergründe des roten Terrors in der Bundesrepublik verstehen will, kommt an Austs neu aufgelegtem Buch nicht vorbei. Das Werk besticht durch Faktenfülle, bislang unveröffentlichtes Fotomaterial und die Schlichtheit seiner Sprache. Schon in den achtziger Jahren führte Letztere dazu, dass der „Baader Meinhof Komplex“ seinen Weg auch in die Fachbereichsbibliotheken wissenschaftlicher Hochschulen und Universitäten fand.
Stefan Aust
Der Baader Meinhof Komplex
Erweiterte Neuausgabe
Hoffmann & Campe Verlag 2017
992 Seiten, 32 Euro
ISBN-10: 3455000337