Wiederaufnahmeverfahren im Münchner Parkhausmord: Querulanz oder berechtigtes Anliegen?

Daniel Reinhard

Die Anwälte von Benedikt Toth, dem Neffen der am 15. Mai 2006 in München erschlagenen „Parkhausmillionärin“ Charlotte Böhringer, haben einen zweiten Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gestellt. Der inzwischen 44-jährige Toth wurde im Jahre 2008 zu einer lebenslangen Freiheits-strafe wegen Mordes an seiner damals 59-jährigen Tante verurteilt.
Der Hamburger Experte für Wiederaufnahmeverfahren, RA Gerhard Strate, und der renommierte Münchner Anwalt Peter Witting reichten laut Medienberichten den Wiederaufnahmeantrag am 01. Februar 2019 beim Landgericht München I ein. Darin heißt es u. a., Bence Toth sei unverzüglich aus der nun knapp 13 Jahre währenden Strafhaft zu entlassen und „freizusprechen“.

Der Münchner Parkhausmord: Ein spektakulärer und umstrittener Indizienprozess

Am 15. Mai 2006 wurde die schwerreiche Millionärin Charlotte Böhringer in ihrer Penthousewohnung mit 24 Schlägen auf den Kopf getötet. Bekannt wurde der Fall als „Parkhausmord“, weil sich die Penthousewohnung auf dem Dach einer Parkgarage befindet. Am 12. August 2008 wurde Benedikt Toth (genannt Bence T.), der Lieblingsneffe der Ermordeten, nach einem spektakulären Indizienprozess vom Landgericht München I wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, wobei die besondere Schwere der Schuld festgestellt wurde. Toth, damals 33 Jahre alt, beteuert bis heute immer wieder seine Unschuld.
Selten hatte ein Urteil so viel Unfrieden ausgelöst. Bei der Urteilsverkündung kam es zu Tumulten im Gerichtssaal: Freunde und Angehörige protestierten lautstark, der Verurteilte beschimpfte den vorsitzenden Richter als „Wurm“. Ein „offenkundiges Fehlurteil“, tobte der Verteidiger.
Der Parkhausmord ist ein Fall der Superlative: Die Prozessdauer betrug über 15 Monate mit 93 Verhandlungstagen, unzähligen Befangenheitsanträgen gegen die Richter, einer Vielzahl von Beweisanträgen, dreimal gehaltenen Plädoyers, einem Hungerstreik des Angeklagten während des Prozesses und einer Unzahl von Rechtsmitteln, die gegen das Urteil eingelegt wurden. Die Familie lobte u. a. 250.000 € aus für Hinweise auf den „wahren“ Täter, zudem wurden vier Dokumentarfilme produziert, die einen Justizirrtum wittern: Schließlich gab es einen DNA-Spur-Spur-Treffer, der mit einem anderen Kapitalverbrechen in Zusammenhang steht.

Spuren im Büro und auf dem Sakko

Die Anwälte von Toth greifen nun laut Medien zwei von insgesamt sieben Belastungsindizien an, die laut Urteil als „wesentlich“ für die Verurteilung eingestuft wurden. Gesamthaft werden jedoch nur 1 ¼ Indizien angezweifelt. Es handelt sich um eine DNA-Mischspur (DNA-Spur von zwei Spurenträgern), die auf dem Sakko der ermordeten Charlotte Böhringer gefunden wurde und eine weitere DNA-Mischspur, die auf einem Testament im Büro der Ermordeten sichergestellt wurde. Beide DNA-Mischspuren wurden dem verurteilten Täter zugeordnet, ungeachtet dessen, dass sie nicht vollständig abgebildet werden konnten.
Bence Toth wurde durch diese zwei DNA-Mischspuren stark belastet. Seine Verteidigung bringt nun ein Gutachten von Peter M. Schneider ein, der Professor für Forensische Molekulargenetik am Institut für Rechtsmedizin in Köln ist. Prof. Schneider ist außerdem Co-Autor der „Allgemeinen Empfehlung der Spurenkommission zur Bewertung von DNA-Mischspuren“. Das Gutachten geht gemäß Medienberichten davon aus, dass bei den nur partiell abgebildeten DNA-Mischspuren auch andere nahe Verwandte des Opfers, wie beispielsweise die Mutter oder der Bruder von Bence Toth, mögliche Spurenverursacher sein könnten. Das Gericht war jedoch der Meinung, dass diese zwei Personen nicht in Frage kämen.
Für RA Gerhard Strate ist außerdem ungewiss, wie die DNA von Bence Toth auf das Sakko und das Testament gelangt sei. Des Weiteren müssten die gefundenen DNA-Spuren nicht zwingend etwas mit der Tötung der Charlotte Böhringer zu tun haben, sie könnten auch auf ganz unverfängliche Art und Weise dorthin gelangt sein. Dessen ungeachtet wurden diese Spuren als wesentliche Belastungsindizien gewertet.
Der Wiederaufnahmeantrag konzentriert sich laut RA Peter Witting letztendlich auf diese zwei DNA-Mischspuren, um „zwei als wesentlich erachteten Indizien vollständig den Boden zu entziehen und damit der zu jeder Zeit fragwürdigen Verurteilung ihre Berechtigung zu nehmen.“
Auch wenn die Verteidigung die Bedeutung dieser DNA-Mischspur auf dem Testament negieren könnte, blieben weitere Spuren im Büro bestehen. So hatte das Gericht noch drei weitere tatrelevante DNA-Spuren sowie eine daktyloskopische Spur im Büro von Bence Toth festgestellt. Außerdem weist die DNA-Spur auf dem Testament mit einer großen Wahrscheinlichkeit auf Bence Toth hin; zumal die wahrscheinlichsten Spurenträger nur sein Bruder Mate und er selbst sein können, da sie als einzige regelmäßig mit Büromaterial ihrer Tante in Kontakt kamen.
Genau lässt sich nie bestimmen, wann eine DNA auf einen Gegenstand gelangte, wenn der Spurenträger grundsätzlich mit dem Opfer regen Kontakt hatte und in der Opferwohnung ein- und ausging. Diese Fragen nach dem „Wann“ und „Wie“ wurden in der Hauptverhandlung, oder zumindest im ersten Wiederaufnahmeantrag, ausführlich von den Gerichten diskutiert und bewertet. Sie können deshalb m. E. nicht noch einmal Gegenstand eines zweiten Wiederaufnahmeverfahrens sein, außer, es würden neue Beweistatsachen vorliegen. Dies scheint nach den bisher veröffentlichten Informationen aber nicht der Fall zu sein.
In diesem Zusammenhang geht es jedoch um Wahrscheinlichkeiten. Wenn auf tatrelevanten Gegenständen ausschließlich Spuren von Bence Toth gefunden werden und auf nichttatrelevanten Gegenständen keine, ist dies auffällig. Zumal ist die Wahrscheinlichkeit, dass auf tatrelevanten wie nicht tat-relevanten Gegenständen Spuren von Bence Toth zu finden sind, grundsätzlich gleich groß, wenn dieser nicht der Täter ist. Das gleiche gilt für andere Personen, die auf unverfängliche Art und Weise Spuren im Büro des Opfers hinterlassen haben könnten. Wenn von diesen keine Spuren auf tatrelevanten Gegenständen gefunden wurden, ist dies ein Hinweis darauf, dass Bence Toth etwas mit der Tat zu tun haben könnte.
Prof. M. Schneider kritisiert jedoch die Sicherung der DNA-Mischspur auf dem Sakko durch die Spurensicherung der Polizei. So sei das Sakko von dieser in einem ersten Schritt laut der Süddeutschen Zeitung „zusammengefaltet und in Plastik verpackt, später zur Anfertigung von Fotos aus der Verpackung genommen und danach erneut eingewickelt“ worden. Die Proben für die Analyse der DNA wurden jedoch erst während der Hauptverhandlung dem Asservat entnommen, sodass sich gemäß Prof. Schneider eine Vielzahl von Möglichkeiten ergäben, wie die DNA auf das Sakko gelangte. Des Weiteren bestehe die Möglichkeit, dass der Neffe von Charlotte Böhringer das Sakko auch zu einem anderen Zeitpunkt berührte.
Diese Einschätzung ist sicherlich richtig, sie wurde jedoch in der Hauptverhandlung und bei der Behandlung des ersten Wiederaufnahmeantrages bereits ausführlich von den Gerichten gewürdigt und ist somit für den zweiten Wiederaufnahmeantrag irrelevant. Es stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit, wenn die Verteidigung beim Sakko-Indiz offenbar bereits vorgestellte Argumente, Tatsachen und Beweismittel wieder aufführt.

Laut Wiederaufnahmeantrag weiß man „zudem nicht, ob die DNA von Haut, Speichel, Schweiß oder Blut stammt, woher sie kommt und wann sie angetragen worden ist“. Die Bestimmung der Herkunft gehört jedoch gemäß Wiederaufnahmeantrag zu den anerkannten Standards in der forensischen Genetik. Um zu eruieren, wie die DNA auf das Sakko der Charlotte Böhringer gelangte, sei die Frage nach der Herkunft wesentlich.
Es ist unklar, wie relevant diese Beobachtung ist, zumal der Zeitpunkt der DNA-Antragung hier völlig ausreicht. Wenn die DNA während der Tat auf das Sakko gelangte, dürfte klar sein, dass dies durch den Täter geschah.
Des Weiteren ist nicht geklärt, ob die Bestimmung der Herkunft tatsächlich zu den anerkannten Standards einer DNA-Analytik gehört. Außerdem erscheint es nicht stimmig, dass dieser Umstand nicht schon viel früher, beispielsweise während der Hauptverhandlung oder im ersten Wiederaufnahmeantrag durch die Verteidigung moniert wurde.
Der Profiler Axel Petermann hat in diesem Zusammenhang anhand von Tatortlichtbildern den Tathergang in einer digitalen 3D-Analyse nachstellen lassen. Bence Toth, der die Leiche seiner Tante vorfand, kniete sich laut Gerichtsurteil neben dem Opfer nieder. Beim Pulsnehmen beugte er sich über die Tote und berührte offenbar das Sakko genau an der Stelle, an der man später die DNA fand. Folglich wäre die DNA auf eine unverfängliche Art und Weise auf das Sakko der Tante gelangt.
Woher Petermann genau weiß, in welcher Position sich Bence Toth befand, als er sich über seine tote Tante beugte, bleibt offen. In den veröffentlichten Akten steht nichts darüber, an welcher Hand Toth den Puls fühlte. Petermann stützt sich vermutlich alleine auf die Aussagen des verurteilten Täters.
Gesamthaft hat das Sakko-Indiz wohl keinen Bestand, aber das war m. E. bereits nach dem ersten Wiederaufnahmeantrag der Fall. Außerdem stellt sich die Frage, ob gerade dieser einzelnen DNA-Spur so viel Gewicht zugesprochen werden sollte. Eine Person, die regen Kontakt mit Charlotte Böhringer hatte, kann immer auf eine unverfängliche Art und Weise eine DNA-Spur hinterlassen.

Promi-Profiler Axel Petermann und seine ausführliche Fallanalyse

Die Familie des verurteilten Täters hatte Axel Petermann vor zwei, drei Jahren als privat ermittelnden Profiler engagiert, um den Tatort und den Tathergang noch einmal akribisch zu untersuchen. Der prominente Fallanalytiker sei dabei angeblich auf einige Ungereimtheiten, Fehler und Widersprüche bei den Ermittlungsarbeiten und Gutachten der damaligen Sachverständigen gestoßen.
So seien
– gefundene Abdrücke in der Wohnung der Charlotte Böhringer fälschlicherweise als Hand-schuhspuren bewertet worden;
– der Todeszeitpunkt falsch berechnet worden;
– Blutspritzer falsch interpretiert worden;
– und demzufolge die Grundannahmen des Gerichts nicht zu halten, insbesondere zu Tatablauf und Todeszeitpunkt.

Abdrücke irrtümlich als Handschuhspuren gedeutet

Das Gericht ging davon aus, dass der Lieblingsneffe der Charlotte Böhringer vor der Eingangstüre der Wohnung wartete, bis die Tante heraustrat, um zu ihrem wöchentlichen Stammtisch in einer nahegelegenen Gaststätte zu gehen. In diesem Augenblick begann der Angriff mit einer stumpfen oder halb-scharfen Tatwaffe. Dabei soll der Täter Handschuhe getragen haben. Diese Handschuhspuren, die teilweise in Blut gesetzt waren, fanden die Ermittler an der Wohnungstüre, am Sakko des Opfers, an einem Tischchen, das neben der Leichenendlage stand, sowie an einer Schachtel im Büro und im Badezimmer. Petermann kommt nun zum Schluss, dass der Täter überhaupt keine Handschuhe getragen habe, die Abdrücke somit irrtümlich als Handschuhspuren interpretiert worden seien. Für RA Strate gibt es laut Medienberichten „keine überzeugenden Hinweise darauf, dass der Täter Handschuhe getragen hat.“

Wie nun Petermann auf diese Idee kommt, dass keine der fünf gefundenen Handschuhspuren als solche zu erkennen seien, ist mir nach dem bisherigen Wissensstand schleierhaft. Insbesondere die mit Blut kontaminierte Handschuhspur auf dem Tischchen scheint mir tatrelevant zu sein. Weshalb Petermann diesen vom Gericht als Handschuhspur klassifizierten Abdruck anders bewertet, ist folglich eine interessante Frage.
Ob Petermanns neue Erkenntnis für die Täterschaft von Bence Toth relevant ist, bleibt offen. Ich denke, das Tragen oder Nichttragen von Handschuhen ist kein Abgrenzungskriterium für Bence Toths Täterschaft.
Allein das vom Gericht angenommene Mordmerkmal Heimtücke hätte vom Ausgangsgericht anders bewertet werden können, wenn es bereits damals davon ausgegangen wäre, dass der Täter keine Handschuhe trug.

Blutspritzspuren falsch interpretiert – erster Angriff fand nicht an der Wohnungstür statt

Dass Bence Toth seiner Tante vor ihrer Eingangstüre auflauerte, wurde anhand der Blutspritzer fest-gestellt. Dies lässt auf Heimtücke schließen, zumal Charlotte Böhringer völlig arglos war, als sie zur Türe hinaustrat.
Petermann kommt nun zu einem anderen Tathergang. Aufgrund der Neuauswertung der Blutspritzer ist er der Auffassung, dass der erste Schlag Charlotte Böhringer 2,20 Meter von der Haustüre entfernt in ihrem Flur getroffen hat. Die damaligen Ermittlungsbeamten hätten die Blutspritzer demnach falsch interpretiert. Petermann schlussfolgert, dass Charlotte Böhringer jemanden in die Wohnung gelassen habe, wobei es kurz vor der Treppe zu einem Streit gekommen oder der Täter bereits in der Wohnung gewesen sei.
Nach einem ersten Schlag gibt es in der Regel keine Blutspuren, das heißt, dass sich allein anhand des Bluts der erste Angriff nicht genau rekonstruieren lässt. Es stellt sich die Frage, wie dieser Umstand von Petermann berücksichtigt wurde. Außerdem bleibt offen, ob dies wirklich einen gänzlich anderen Tatablauf impliziert. Es könnte beispielsweise auch sein, dass der erste Schlag bei der Türe stattfand, dieser aber noch keine Blutspuren verursachte. Charlotte Böhringer taumelte zurück in den Flur und erst nach 2,20 Meter kommt es zum ersten Schlag, der Blutspuren verursacht. Es besteht ebenso die Möglichkeit, dass der Täter das Opfer sofort in den Flur zurückdrängte und erst in einem Abstand von 2,20 Meter zum ersten Schlag ausholte.
Es ist jedoch auch möglich, dass der Täter klingelte, sie fragte, ob sie alleine sei und kurz Zeit habe. Charlotte Böhringer bejahte dies, ließ den Täter in die Wohnung. Sie geht voraus und in diesem Augenblick schlägt er zu. Das ist zwar ein anderer Tatablauf, aber er steht der Täterschaft von Bence Toth nicht entgegen und dürfte auch den vom Gericht angenommenen Mordmerkmalen nicht widersprechen.
Weshalb Petermann nur diese zwei Szenarien in Betracht zieht, ist m. E. nicht nachvollziehbar. Wes-halb sollte Charlotte Böhringer jemanden in die Wohnung gelassen haben? Wieso kam es bereits an der Treppe zum Streit? Das ist eine denkbare Variante, aber es gibt noch viele weitere. Weshalb sollte der Täter nicht bereits vorher im Sinn gehabt haben, Charlotte Böhringer zu töten, ohne dass es zum
Streit kam? Außerdem: Woher soll der Täter seine Tatwaffe hergenommen haben, wenn es kein geplanter Mord war, sondern dieser aus einem Streit entstand? Einen stumpfen oder halbscharfen Gegenstand, der eine gewisse Massivität aufweist, hat man in der Regel bei Besuchen nicht bei sich. Viel naheliegender dürfte doch sein, dass der Täter die Tatwaffe in der Absicht mitbrachte, Charlotte Böhringer zu töten. Natürlich ist denkbar, dass der Täter, während des hypothetisch angenommenen Streits vor der Treppe, einen Gegenstand vorfand und damit Charlotte Böhringer erschlug. Nur ist der Flur sehr klein, es steht nur ein kleines Tischchen dort, wo allenfalls ein Gegenstand gestanden haben könnte. Zudem scheinen bei diesem Tischchen keine Gegenstände wie Werkzeuge gelagert worden zu sein. Außerdem wurde offenbar auch kein entsprechender Gegenstand aus der Wohnung der Charlotte Böhringer vermisst, der auf ein solches Szenario schließen lassen würde.

Todeszeitpunkt falsch berechnet

Gemäß Petermann wurden auch Fehler bei der Bestimmung des Todeszeitpunktes anhand der Körpertemperatur gemacht und dies aus zweierlei Hinsicht. Petermann meint laut der TZ-München diesbezüglich: „Frau Böhringers Körpertemperatur wurde am Tatort nicht gemessen, was man üblicherweise tut. Das ist ein grobes Versäumnis.“ Für Petermann heißt dies, dass die nachträglich gemessene Körpertemperatur in der Rechtsmedizin kein gesichertes Zeitfenster zur Eingrenzung des genauen Todeszeitpunktes zulässt. Der genaue Todeszeitpunkt, so Petermann, lasse sich folglich nicht genau eingrenzen.
Die erste Messung der Körpertemperatur (rektal) erfolgte offenbar erst um 1.20 Uhr auf dem Obduktionstisch, obwohl die Leiche von Charlotte Böhringer bereits um 18.50 Uhr aufgefunden wurde. Mit maximal 15 Grad sei die Kernkörpertemperatur sehr niedrig gewesen. Petermann kommt laut der AZ-München zu folgendem Schluss: „Das deutet daraufhin, dass der Todeszeitpunkt viele Stunden zurücklag. Denn ein Körper kühlt im Schnitt um ein Grad pro Stunde ab, bis er die Umgebungstemperatur erreicht hat.“
Um 2.50 Uhr wurde die Körpertemperatur noch einmal gemessen, jetzt am Oberschenkel, das Thermometer zeigte nun 20,4 Grad an. Die Körpertemperatur war demnach um 5 Grad angestiegen. Laut Petermann ist anhand der Akten nicht ersichtlich, weshalb es zu diesem Temperaturanstieg kam, es fehlt folglich jegliche Begründung dafür. Dessen ungeachtet war diese zweite Temperaturmessung Grundlage zur Berechnung des Todeszeitpunktes, so Petermann weiter.
Weshalb aber hat das die Verteidigung nicht bereits in der Hauptverhandlung festgestellt? Hier könnte man folglich auch Kritik an der Verteidigung üben, wenn dies erst ein privat ermittelnder Profiler nach über 12 Jahren feststellt.
Auffällig ist nun für Petermann, dass der wahrscheinlichste Todeszeitpunkt, der vom Gericht angenommen wurde, auf das Zeitfenster hinweist, in dem Bence Toth kein Alibi vorweisen kann. Anhand seiner Analyse und der Berechnung des Todeszeitpunktes durch ein rechtsmedizinisches Institut kommt er jedoch zu anderen wahrscheinlicheren Todeszeitpunkten, zu denen Bence Toth ein Alibi vorweisen kann. Für Petermann ist laut der AZ-München auffällig, dass „Informationen, die Benedikt Toths Täterschaft zu belegen scheinen, offenbar sehr wohlwollend aufgenommen und alles Entlastende negiert wurde“.
Weshalb ist es nun jedoch Petermann möglich, ein Zeitfenster zu bestimmen, das er am wahrscheinlichsten hält? Dafür musste er schließlich auch auf die Daten zurückgreifen (gemessene Körpertemperaturen), welche bereits der Rechtsmediziner des Gerichts berücksichtigte. Weiter stellt sich die Frage, weshalb er nun bei gleichen Annahmen bzw. Informationen zu einer anderen Berechnung kommt als der Sachverständige des Gerichts.
Zudem lässt Petermann offen, weshalb er das Ergebnis für „auffällig“ hält. Denkt er an ein intentionales Geschehen? Und wenn dem so wäre, wie kommt er auf diese Idee und gerade auf diese Interpretation? Woher weiß er so sicher wann Bence Toth ein Alibi hat? M. E. kann Bence Toth von 17.00 Uhr bis ca. 19.10 Uhr kein Alibi vorweisen. In diesem Fall hätte er höchstens von 19.10 Uhr bis 20.15 Uhr ein Alibi bzw. ein Zeitfenster, währenddessen er die Tat nicht begangen haben kann. Von 20.15 Uhr bis ca. 22.00 Uhr hat er wiederum kein Alibi. Ob er nach 22.00 Uhr wirklich ein Alibi hat, hängt von der Richtigkeit der Aussage seiner damaligen Verlobten ab, die ihm laut Gerichtsurteil immerhin ein falsches Alibi gab.
M. E. wurden vom Gericht entlastende Umstände berücksichtigt. Selbstverständlich stellt sich zudem die Frage, wie neutral und objektiv Petermann ist, der im Auftrag der Familie des verurteilten Täters arbeitet.
Petermann zweifelt auch die Analyse des Todeszeitpunktes anhand des Mageninhaltes des Opfers an. Mithilfe des Zeitpunkts der letzten eingenommenen Mahlzeit, der Art und Größe des Gerichts und dessen Überresten im Magen, kann der genaue Todeszeitpunkt rekonstruiert werden. Gegen 14.00 Uhr hatte Charlotte Böhringer noch einen Teller Rigatoni all’arrabbiata in einem italienischen Restaurant zu sich genommen. Die damaligen Sachverständigen gingen bei der Berechnung des Todeszeitpunktes anhand der letzten Mahlzeit von einer Portion von 400 Gramm aus. Petermann hat nun den Gastronomen des besagten Restaurants befragt, ob diese Annahmen zutreffend seien. Dieser konnte sich jedoch daran erinnern, dass Charlotte Böhringer immer eine kleine Portion bestellt hatte, zumal sie Wert auf ihre Körperfigur gelegt habe. Somit sei auch der von den damaligen Sachverständigen in ihrem Gutachten wahrscheinlichste Todeszeitpunkt, so Petermann, in Frage gestellt.
Hier stellt sich die Frage nach der Belastbarkeit der Aussage des Gastronoms. Seit der Tat sind immerhin fast 13 Jahre vergangen, in der Regel verblassen die Erinnerungen mit fortschreitender Zeit allmählich.
Es drängen sich also folgende Fragen auf: Wie lange war dieser Gastronom in diesem Betrieb bereits tätig? Hat er immer die Bestellung der Charlotte Böhringer entgegengenommen? Wie häufig war sie dort zum Mittagessen? Hat man auch andere Zeugen befragt, die das bestätigen könnten und wenn nein, warum nicht?

Grundannahmen erschüttert: Tatablauf und Todeszeitpunkt

Der Anwalt von Bence Toth, RA Peter Witting, kommt anhand der Ergebnisse von Axel Petermann in der Münchner AZ zu folgendem Fazit: „So ist nunmehr bestätigt, dass maßgebliche Feststellungen des Schwurgerichts etwa zu Todeszeitpunkt oder Tatablauf erschreckend oberflächlich getroffen wurden und keineswegs belastbar sind.“
M. E. ist der Tatablauf, wie ihn das Gericht angenommen hat, auch mit der Integration der nun neuen, in den Medien veröffentlichten Informationen durchaus vereinbar. Selbstverständlich gibt es auch viele andere mögliche Szenarien, aber ausgeschlossen werden kann das Tathergangs-Szenario des Gerichts anhand der bisher veröffentlichten Informationen keineswegs. Auch der Todeszeitpunkt scheint mir durchaus belastbar zu sein. Das letzte Lebenszeichen von Charlotte Böhringer kam nach dem da-maligen stellvertretenden Geschäftsführer am 15. Mai 2006 um 18.14 Uhr per Telefon. Um 19.10 Uhr nahm sie einen Telefonanruf von ihrem Neffen Mate Toth in ihrer Wohnung nicht mehr entgegen. Um 19.30 Uhr hatte sie ein Treffen mit einem Bekannten zum wöchentlichen Stammtisch ausgemacht, den sie in der Vergangenheit regelmäßig besuchte und an dem sie an diesem Tag nicht erschien. Mit diesen Eckdaten ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass Charlotte Böhringer in der Zeit von 18.15 Uhr bis ca. 19.10 Uhr getötet wurde. Abgesehen davon ist nicht ersichtlich, weshalb die Verteidigung dies nicht bereits vorher kritisch prüfte und dies erst knapp 13 Jahre nach der Tat reklamiert.

Die Medien, das Geld und der Mordfall Charlotte Böhringer

Bence Toth konnte sich in verschiedenen Medien ebenfalls zu dem zweiten Wiederaufnahmeantrag äußern. Es fällt auf, dass von den Journalisten die Sichtweise von Bence Toth nie kritisch hinterfragt wurde. Seine Tante hatte, laut Gerichtsurteil, die Übernahme der Geschäftsführertätigkeit der Parkgarage durch ihren Lieblingsneffen an einen erfolgreichen Studienabschluss in Jurisprudenz und eine Zulassung zur Anwaltschaft gekoppelt. Bence Toth konnte diese Bedingung nicht erfüllen, da er das Jura-Studium abbrach, ohne je das Erste Staatsexamen bestanden zu haben. Obwohl er seinem Umfeld einen erfolgreichen Studienabschluss vorgab, gibt Bence Toth immer wieder an, dass seine Tante die einzige Person gewesen sei, die er über den Studienabbruch informiert habe. Für das Gericht war der Abbruch des Studiums und folglich das Nicht-Erfüllen der Anforderungen der Tante ein wesentliches Motiv dafür, dass Bence Toth sie ermordete. Wenn er nun bereits im Herbst 2005 seine Tante über den Studienabbruch informiert haben will und dies keine nachteiligen Konsequenzen nach sich zog, wäre auch das Mordmotiv nicht gegeben.
Dem steht jedoch eine gewichtige Aussage des Geschäftsführers der Parkgarage entgegen. Charlotte Böhringer hatte diesen, nach Aussage des Geschäftsführers, noch kurz vor ihrem Tod zu Bence Toth geschickt, um in Erfahrung zu bringen, wie der Stand des Studiums sei. Wenn also Bence Toth seine Tante bereits im Herbst 2005 über den Abbruch seines Studiums informiert haben will, dann ist nicht nachvollziehbar, weshalb diese im Mai 2006 nach dem Stand des Studiums fragte. Dieses Faktum wird jedoch von Bence Toth und seiner Familie immer negiert bzw. eskamotiert. Diese Zeugenaussage des Geschäftsführers war für das Gericht glaubwürdig, sie wurde übrigens auch nie durch Bence Toth oder dessen Verteidigung bestritten. Hier könnte man nun von kritischen Journalisten bzw. Medien erwarten, dass sie auch das Narrativ der Verteidigung und der Familie kritisch hinterfragen und nicht einfach kommentarlos reproduzieren.
Etwas überspitzt könnte man formulieren, dass die Medien im Fall Charlotte Böhringer entweder als Chronisten oder als Anwälte des verurteilten Täters und dessen Fürsprecher agieren. Kritischer Jour-nalismus sieht m. E. anders aus. Dieser ist nicht nur in eine Richtung kritisch, sondern sollte alle Seiten hinterfragen. Dies dürfte gerade in diesem Fall besonders wichtig sein, zumal der Bruder des verurteil-ten Täters, Mate Toth, das Millionenvermögen der Charlotte Böhringer erbte und aus diesem Geld vermutlich auch ein großer Teil der Anwaltskosten und der PR-Kampagnen finanziert wurde. Es steckt also offenbar auch sehr viel Geld hinter diesem Fall. Es wäre interessant zu wissen, wie viel Geld bereits in Anwälte, Sachverständige und PR-Berater etc. gesteckt wurde. Auch eine wissenschaftliche Medienanalyse könnte in diesem Fall sehr interessant sein:
– Welche Akteure kommen in welchen Rollen vor?
– Weshalb hat ein Journalist oder eine Journalistin die Geschichte auf eine bestimmte Art und Weise geschrieben?
– Welches ist das vorherrschende Narrativ oder Framing?
– Welche Akteure kommen zur Sprache?
– etc.

Interessant wäre auch, ob die Familie Toth die Ergebnisse des Profilers Axel Petermann durch den Sender RTL auch dann zur Veröffentlichung freigegeben hätte, wenn diese negativ für Bence Toth ausgefallen wären, es also diesbezüglich eine Vereinbarung zur Handhabung gab.

Bürgerinitiative ProBence: Desinformation oder ein Lapsus?

Die Bürgerinitiative ProBence, eine Vereinigung, die seit dem Jahre 2013 besteht und sich zum Ziel gesetzt hat, „die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen Bence Toth wegen Mordes an seiner
Tante Charlotte Böhringer zu erwirken“, schreibt auf ihrer Homepage zum zweiten Wiederaufnahme-antrag u. a. Folgendes:

„Genauere Infos und Hintergründe dürfen momentan hier noch nicht kommuniziert werden, da die Veröffentlichung von rechtlichen Dokumenten und Inhalten eines laufenden Verfahrens nicht erlaubt ist.“

Was natürlich eine Desinformation der Öffentlichkeit bzw. eine Falschinformation ist. Man kann sich fragen, ob dies bewusst und willentlich geschah oder nur ein Lapsus war. Man kann vermutlich eher von Ersterem ausgehen, zumal RA Gerhard Strate Mitverfasser des zweiten Wiederaufnahmeantrages ist und dieser laufend Wiederaufnahmeanträge auf seiner Homepage veröffentlicht, die noch nicht abschließend entschieden sind. Momentan beispielsweise im Doppelmord Babenhausen, für den RA Strate zugunsten des verurteilten Täter Andreas Darsow einen Wiederaufnahmeantrag eingereicht hat. RA Strate hat in seiner Schrift „Rechtlicher Hinweis zur Veröffentlichung von Dokumenten aus strafrechtlichen Verfahren“ auch eingehend begründet, weshalb es zulässig sei, Wiederaufnahmeanträge, die gerade erst eingereicht wurden, zu veröffentlichen.
Man darf also eher davon ausgehen, dass die Verteidigung keine volle Transparenz herstellen will, zumal sie eventuell Angst vor negativen Auswirkungen haben könnte. Die Verteidigung hat nun vielleicht bemerkt, dass gewisse Leute ihr Narrativ kritisch hinterfragen.

Für weitere Informationen sei folgendes Buch empfohlen: Daniel Reinhard: Der Münchner Parkhausmord. Ein spektakulärer und umstrittener Indizienprozess. Books on Demand 2018, 260 Seiten, Taschenbuch, 14 Euro, ISBN-10: 3752848200

 

Veröffentlicht von on Mrz 4th, 2019 und gespeichert unter DRUM HERUM, GERICHTSGESCHICHTEN. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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