Trendbücher (2): „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz
Thomas Claer
Die Älteren unter uns werden sich vielleicht noch erinnern: Es gab tatsächlich mal eine Zeit, in der die meisten Menschen „normal“ sein und möglichst nicht auffallen wollten. Man war völlig zufrieden, wenn man einfach nur einer von vielen war. Doch das ist lange her. Inzwischen leben wir nämlich längst in einer – Achtung, jetzt kommt das Schlagwort! – „Gesellschaft der Singularitäten“. Der Soziologe Andreas Reckwitz (Jahrgang 1970), Inhaber eines Lehrstuhls für Kultursoziologie in Frankfurt/Oder, hat mit dieser Formulierung den heutigen Zeitgeist auf den Punkt und zugleich auf den Begriff gebracht. Nicht weniger als eine neue Gesellschaftstheorie auf 485 Seiten präsentiert er in seinem gleichnamigen, mittlerweile vielgerühmten Werk.
Singularisierung bedeutet darin „das komplizierte Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, die zu erreichen freilich nicht nur subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist.“ Für Reckwitz ist sie kein bloßes Rand- oder Oberflächenphänomen, sondern steht schon seit den 1970er/1980er Jahren „im Zentrum der spätmodernen Gesellschaften“ und markiert einen „struktureller Bruch zwischen der industriellen Moderne und der Spätmoderne“. „Jener bis in die 1970er Jahre herrschende westliche Subjekttypus, den David Riesmann als ‚sozial angepasste Persönlichkeit‘ beschrieb, der Durchschnittsangestellte mit Durchschnittsfamilie in der Vorstadt, ist in den westlichen Gesellschaften zur konformistisch erscheinenden Negativfolie geworden, von der sich das spätmoderne Subjekt abheben will.“ Als „Leitmilieu der Spätmoderne“ hat der Verfasser die „hochqualifizierte Mittelklasse“ ausgemacht: „An alles legt man nun den Maßstab der Besonderung an: wie man wohnt, was man isst, wohin und wie man reist, wie man den eigenen Körper oder den Freundeskreis gestaltet. Im Modus der Singularisierung wird das Leben nicht einfach nur gelebt, es wird kuratiert. … Die allgegenwärtigen sozialen Medien mit ihren Profilen sind eine der zentralen Arenen dieser Arbeit an der Besonderheit. Das Subjekt bewegt sich hier auf einem umfassenden sozialen Attraktivitätsmarkt, auf dem ein Kampf um Sichtbarkeit ausgetragen wird, die nur das ungewöhnlich Erscheinende verspricht.“ Kurz gesagt: „Singularitätsmärkte sind primär Aufmerksamkeits- und Attraktivitätsmärkte“.
Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass inzwischen beinahe jeder etwas ganz Besonderes sein will? Laut Reckwitz liegt dies vor allem an drei sich wechselseitig verstärkenden Faktoren: (1) dem Entstehen einer postindustriellen Ökonomie der Singularitäten (im Anschluss an die industrielle „organisierten Moderne“, die ihren Höhepunkt ca. 1920 bis 1970 erreicht hatte), (2) der technischen Revolution der Digitalisierung (die sich in den vergangenen Jahren noch einmal enorm beschleunigt hat) sowie (3) einer vom Lebensstil der neuen Mittelklasse getragenen Authentizitätsrevolution (für die nach 1968 die Werte der Individualität und Authentizität maßgeblich wurden). Ein ökonomischer, ein technologischer und ein soziokultureller Faktor wirken hier also zusammen.
Interessant ist ferner, was Reckwitz zur „Singularisierung der Arbeitswelt“ zu sagen hat: „Vor allem die Arbeitssubjekte selbst werden in der Spätmoderne singularisiert, gefragt sind nicht allein formale Qualifikationen, sondern ist die Pflege eines originellen, möglichst einzigartigen Profils, also ein in seiner Zusammensetzung jeweils singuläres Bündel aus Kompetenzen, Talenten, Potentialen und Persönlichkeitsmerkmalen, das die Nicht-Austauschbarkeit und Unterscheidbarkeit des Arbeitssubjekts sicherstellt. Die Kompetenz-, Talent- und Potenzialbündel der Subjekte kommen in der singularistischen Arbeitswelt nicht in Form von formal-sachlicher Leistung und allgemeiner Vergleichbarkeit zur Geltung, sondern als Performanz. Das spätmoderne Arbeitssubjekt ist ein Performanzarbeiter, der seine Einzigartigkeit, ähnlich einer Casting-Konstellation, vor einem Publikum aufführt.“ Die Rede ist auch von einer „Selbstsingularisierung des Profil-Subjekts“.
Problematisch an dieser Entwicklung ist nun allerdings, dass sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt unterminiert. Denn seit den 1980er Jahren, so Reckwitz, lasse sich „eine verstärkte Polarisierung zwischen neuer Mittelklasse (zuzüglich der Oberklasse) und der neuen Unterklasse (und teilweise der alten Mittelklasse) ausmachen“. „Während die neue Mittelklasse eine offensiv zur Schau getragene Selbstkulturalisierung betreibt, dominiert in der Unterklasse die Alltagslogik des ‚muddling through‘ (d.h. des sich Durchwurschtelns oder Durchs-Leben-Quälens). Durch ‚Prozesse der Valorisierung und Entwertung zwischen den Klassen‘ werden die Lebensformen der Unterklasse (und zum Teil auch der alten Mittelklasse) zum Gegenstand der Entwertung. Charakteristisch für die Gesellschaft der Singularitäten ist also eine ‚Kulturalisierung der Ungleichheit‘“. Das bedeutet, dass der distinktive (vor allem auf einer kulturellen Ebene großkotzige) Lebensstil der großstädtischen Mittelklasse, ihre Praktiken des Essens, Wohnens und Reisens u.s.w. – von der Altbauwohnung im angesagten Szeneviertel bis zum Yoga-Camp in Fernost – eine ständige Provokation all derer darstellen, die davon ausgeschlossen bleiben und sich abgehängt fühlen. „Die Kultur dient als Ressource zur Bereicherung und Aufwertung des Selbst“ – auf Kosten derer, die sich nicht dazu gehörig fühlen (müssen). „Der Liberalismus der grenzenlosen Märkte hat die Polarisierung zwischen hoch- und geringqualifizierter Arbeit, zwischen sozialkulturellen Aufsteigern und Absteigern, zwischen Boomregionen und schrumpfenden Regionen weiter entfesselt.“ So wird die Singularisierung zur „Quelle von Defiziterfahrungen“ und zum „Enttäuschungsgenerator“. Laut Reckwitz ist unsere Gesellschaft politisch herausgefordert, auf diese sozialen und kulturellen Entwertungsprozesse eine Antwort zu geben.
Andreas Reckwitz
Die Gesellschaft der Singularitäten
Suhrkamp Verlag 2017 485 Seiten; 28 Euro
ISBN: 978-3-518-58706-5