Berufsgenossenschaft

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

wenn man schon etwas älter ist, dann fallen einem manchmal Dinge ein, an die man zehn oder sogar 20 Jahre nicht mehr gedacht hat. Erst neulich ist mir wieder bewusst geworden, dass ich vor fast zwei Jahrzehnten um ein Haar bei einer Berufsgenossenschaft gelandet wäre. Und das kam so: Ich absolvierte die Anwaltsstation meines Referendariats bei einem sehr netten Strafverteidiger, und der ging mit mir immer Mittagessen in der Kantine einer Berufsgenossenschaft für irgendwelche Berufsgruppen. Ich hatte, obgleich ich mein Jurastudium frisch abgeschlossen hatte, noch nie von solch einer Institution gehört. Mein Strafverteidiger erklärte mir in etwa, was das sei, und fügte hinzu: „Die stellen auch gerne Juristen ein, das sind ruhige Behördenjobs, gar nicht schlecht bezahlt, da braucht man auch keine besonders guten Noten.“ Das klang für mich sehr interessant. Denn wenn ich damals an meine berufliche Zukunft dachte, dann sah ich in einen tiefen, schwarzen Abgrund, der mir umso bedrohlicher erschien, je näher er rückte.

Weil ich so ein starkes Interesse zeigte, machte mich mein Strafverteidiger bald darauf mit einer ebenfalls netten Dame bekannt, die dort arbeitete. „Ja“, sagte sie, „wir sind fast so etwas wie ein Geheimtipp. Uns kennt ja keiner. Wenn Sie sich in der Zentrale bewerben, dann haben Sie sicherlich gute Chancen.“ Aber an welchem Ort würde man denn da arbeiten? „Wir haben Standorte in Kassel, Hamburg, Dresden und hier in Bielefeld. Irgendwo ist meistens etwas frei.“ Freudestrahlend erzählte ich meiner Frau davon, doch die war alles andere als begeistert. In Bielefeld bleiben? „Niemals. Bloß weg von hier.“ Kassel? „Viel zu provinziell.“ Dresden? „Immerhin eine Kulturstadt, aber viel zu klein und die Leute dort ausländerfeindlich.“ Aber Hamburg, wäre das nicht gut? „Nein, das ist nur eine Stunde von Bremen entfernt. Dann kommen uns deine Eltern jede Woche besuchen.“ Es half alles nichts. Meine Frau wollte klipp und klar nach Berlin und nur nach Berlin, obwohl es dort, wie jeder wusste, keine Jobs gab, schon gar nicht für Juristen. Und für sie als Literaturwissenschaftlerin schon überhaupt nicht. Aber das war egal. Also wurde es nichts mit mir und der Berufsgenossenschaft. Stattdessen wurde ich Verlagspraktikant, Prekariatsanwalt, Nachhilfelehrer und später noch manches Andere in Berlin. Aber dorthin zu gehen war – rückblickend betrachtet – die beste Entscheidung meines Lebens.

Als Jurist in der Berufsgenossenschaft wäre ich vermutlich ein ganz anderer Mensch geworden, hätte mich völlig anders entwickelt. Das wäre dann gar nicht mehr ich, oder sagen wir: es wäre ein anderes Ich von mir. Wobei ich natürlich auch heute ein vollkommen anderer Mensch bin als damals vor zwanzig Jahren. Man wird ja immer jemand anders. Aber mein hypothetisches Berufsgenossenschafts-Juristen-Ich mag ich mir gar nicht vorstellen. Ich hätte mich für Tariflöhne interessiert, für Rentenbescheide und Berufsunfähigkeitsversicherungen, solche Sachen. Und das Schlimmste ist: Es hätte auch durchaus zu mir gepasst. Wahrscheinlich gibt es immer eine ganze Reihe an gangbaren Lebenswegen, mit denen man sich gegebenenfalls arrangieren könnte, und es sind oft nur kleine Zufälle, die darüber entscheiden, wo man schließlich landet. Da kann man mehr Glück haben oder weniger. Und meistens erkennt man es erst im Rückblick.

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Apr. 1st, 2019 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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