Thomas Darnstädt legt Archivmaterial des Bundesverfassungsgerichts vor
Matthias Wiemers
Der langjährige SPIEGEL-Redakteur Thomas Darnstädt, so alt wie das Grundgesetz selbst, hat sich der Frühzeit seiner Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht angenommen. Der Autor, der Staat und Kirche gegenüber durchaus kritisch eingestellt ist, schildert zu Beginn, wie es überhaupt zur Entstehung des Bandes kam. Das BVerfG hat sich danach immer gesträubt, die Auswertung seiner Altaktenbestände zuzulassen. Die Archivare des Koblenzer Bundesarchivs hätten die Akten zwar stapeln dürfen, aber nicht als Archivgut behandeln. Denn sie sind, wenn man der Schilderung des Autors Glauben schenken will, nur aufgrund Platzmangels in Karlsruhe in diesen Besitz gelangt. Der seinerzeitige Präsident Ernst Benda habe den Archivaren auch nicht zugetraut, das Richtige für die Archivierung aufzubewahren.
Etwas unpräzise an der ein oder anderen Stelle (so „kam“ etwa Gerhard Leibholz nicht von Rudolf Smend, letzterer hatte nur das Zweitgutachten im Habilitationsverfahren Leibholz´ geschrieben), aber insgesamt mit großer Kennerschaft und auch mit interessanten Schlussfolgerungen präsentiert der Autor nicht nur in seiner Einleitung, sondern anhand acht geschickt ausgewählter Verfassungsgerichtsverfahren (teilweise in Form mehrerer verbundener Verfahren und teilweise inclusive Ausblicken auf Folgeverfahren) die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und damit zugleich der jüngeren Bundesrepublik Deutschland.
Im ersten Kapitel geht es um das KPD-Verbot und auch ein wenig um das SRP-Verbot. Da beide Verbotsanträge gleichzeitig gestellt wurden, man sich aber naturgemäß leichter tat, die Nazi-Nachfolgepartei SRP zu verbieten, erschien dieses Verbot bereits im zweiten Band der amtlichen Entscheidungssammlung, das KPD-Verbot aber erst in Band fünf. In diesem Fall wird besonders schön die Kollaboration von Richtern mit der Adenauer-Regierung dargelegt, die anhand der Akten gut nachgewiesen werden kann. Das ist nachlesenswert, weil die Demokratie zwar „wehrhaft“ sein muss, aber den Rechtsstaat hierbei nicht auf der Strecke lassen darf. Hatte doch nachweislich der Antikommunismus bereits im vorherigen NS-System zu irrationalem Verhalten in Gesellschaft und insbesondere den Kirchen geführt und damit den Nazis das Leben ein wenig leichter gemacht.
Die Hauptrolle im zweiten Fall spielt die erste Richterin des BVerfG überhaupt, Erna Scheffler, die für die Durchsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Rechtsordnung sorgte – wiederum gegen den Widerstand Adenauers.
Wilhelm Elfes, eine friedensbewegte christliche Nervensäge, wie man ihn wohl damals einschätzte, ist der Held der dritten Geschichte. Die Weichenstellung des Zweiten Senats für ein weites Verständnis von Art. 2 Abs. 1 GG als Allgemeine Handlungsfreiheit wird anschaulich erzählt und auch die Alternative, die vor allem als „Persönlichkeitskerntheorie“ vorkam, wird dargestellt – wenn auch ohne Bezug auf ihren Hauptvertreter Hans Peters. Darnstädt zeigt auch die prozessuale Relevanz der weiten Fassung dieses Grundrechts und den Versuch des Gerichts auf, es hier zu keiner Prozessflut kommen zu lassen.
Die rechtliche Verfolgung der Homosexuellen ist Thema von Kapitel vier. Man wundert sich heute, was zu früheren Zeiten in dieser Angelegenheit für Verfolgungen betrieben wurden, die Darnstädt anschaulich darstellt. Dass es hier im Jahre 2017 zu einem Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung Homosexueller wegen ihrer Verfolgung auch in der Bundesrepublik kam, wird zu recht als einmaliger Vorgang dargestellt. Interessant ist auch der Hinweis des Autors, dass sich das BVerfG nach seiner Homosexuellen-Entscheidung von 1957, die anhand der Akten hier dargestellt wird, nie wieder auf das Sittengesetz berufen habe.
Das „Lüth-Urteil“ ist Gegenstand des fünften Kapitels . Zu recht weist Darnstädt darauf hin, dieses Urteil sei in die Demokratiegeschichte der Bundesrepublik eingegangen. Hier wird besonders deutlich der Einfluss der Smend-Schule auf die Rechtsprechung des BVerfG und auch die Rolle, die der „Kronjurist“ der SPD, Adolf Arndt, in Verfassungsgerichtsprozessen gegen die Bundesregierung spielte.
Im ersten und bis heute wichtigsten Fernsehurteil, das hier chronologisch korrekt erst in Kapitel sechs behandelt werden konnte, sind auch wieder Mauscheleien zwischen Karlsruhe und Bonn nachweisbar, aber hier wird deutlich, dass nicht nur das BVerfG, sondern auch die Länder und damit auch Parteifreunde des Bundeskanzlers gegen diese zugleich zentralistische und autokratische Maßnahme waren. Auch hier spielt wiederum Adolf Arndt eine Hauptrolle. Er zeigte, wie Darnstädt schreibt, wie man mit Recht Politik macht. Der Autor vergisst auch nicht darauf hinzuweisen, dass der Zweite Senat seinerzeit (1961) bereits einen Hinweis auf die prinzipielle Möglichkeit eines Privatfernsehens gegeben habe und meint am Ende zu recht, das Netz sei die offene Flanke der Demokratie. Denn ob die existierenden öffentlich-rechtlichen Sender, die sich zunehmend auch des Internets bedienen, hier noch im Rahmen der Verfassung walten, ist noch nicht abschließend geklärt.
Die SPIEGEL-Affäre im 7. Kapitel hat sicherlich nicht nur deshalb Eingang in den Band gefunden, weil der Autor hierzu einen besonderen beruflichen Bezug hat. Das Thema passt vorzüglich in den Band und zeigt einmal mehr auf, wie man durch geschickte Personalpolitik in einer solchen Sache noch zu einem Patt in Karlsruhe kommen kann.
Der Streit um die Abtreibungsfrage, der hier als Paket der beiden Entscheidungen von 1975 und 1993 präsentiert wird, hätte hingegen in die Darstellung der frühen Bundesrepublik anhand der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht hineingehört – wenn es denn zentral um diese Darstellung gegangen wäre. Für diese hier geäußerte Kritik spricht schon, dass man die Umstände der 93er-Entscheidung noch nicht anhand von Archivakten ermitteln kann. Hier zeigt sich eben, dass man es mit der Freiheit auch übertreiben kann. Und es zeigt sich, dass dem Staat durchaus eine Schutzpflicht zukommen kann und sich Juristen gelegentlichen als Bewahrer betätigen müssen, um letztlich die Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie zu einem praktischen Ausgleich bringen zu können – immer zur Verwirklichung der Menschenwürde, die letztlich auf dem christlichen Erbe Deutschlands und Europas aufruht.
Unter den inzwischen zahlreichen Büchern zur Geschichte des Bundesverfassungsgerichts gehört dieses aber zu den interessantesten, und man darf den Autor ermutigen, seine Studien im praktisch nach Koblenz verlegten Keller des BVerfG fortzusetzen.
Thomas Darnstädt, Verschlusssache Karlsruhe. Die internen Akten des Bundesverfassungsgerichts, Piper Verlag, München 2018, 411 S., 24 Euro (ISBN 9783492058759)