Weimarer Reichsverfassung vielstimmig und multidimensional

Horst Dreier und Christian Waldhoff bringen einen Sammelband über „Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung“ heraus

Matthias Wiemers

Gleich vorweg ist hier anzumerken, dass das im Beck Verlag erschienene Sammelwerk als großer Wurf anzusehen ist, der die ein oder andere Erkenntnis bringt, die in geschichtlichen Darstellungen regelmäßig zu kurz kommen.

Das Projekt wurde unterstützt von den beiden „Verfassungsministerien“ auf Bundesebene bzw. von dem, was von diesen inzwischen übriggeblieben ist, seitdem sie sich auch für Infrastruktur und Konsum zuständig fühlen.

Herausgeber sind der als SPD-nah geltende Würzburger Staatsrechtslehrer Horst Dreier und der eher konservativ zu nennende Berliner Ordinarius Christian Waldhoff (HU).

Die Historiker Oliver E. R. Haardt und Christopher Clark ordnen zunächst historisch ein. In ihrem Beitrag „Die Weimarer Reichsverfassung als Moment in der Geschichte“. Sie mahnen bereits, dass man die Geschichte der Republik nicht vom Standpunkt 1933 aus betrachten dürfe (S. 13). Damit ist zugleich die Grundmelodie des Bandes angestimmt, die es gut meint mit der „WRV“. Betont wird hier auch, dass die Ablehnung des Versailler Vertrags und der Wunsch nach Revision den eigentlichen Grundkonsens der jungen Republik ausmachte. Erstmals taucht hier auch das erste Ermächtigungsgesetz unter dem Staatspräsidenten Ebert im Jahre 1923 auf (S. 33 ff.). Dies hilft, die Weimarer Republik ausgewogener als nur von ihrem Ende her zu sehen, auch wenn die Autoren uns hier durchaus auch kontroverse Debatten in Geschichts- und Rechtswissenschaft andeuten. Eindeutig fällt das Urteil der Autoren dahingehend aus, dass sie betonen, die WRV sei keine Fehlkonstruktion gewesen (S. 41).

Der Salzburger Staatsrechtslehrer Ewald Wiederin stellt „die Weimarer Reichsverfassung im internationalen Kontext“  dar und stellt dabei fest, die WRV sei „eines der originellsten Stücke, die je eine Verfassungswerkstatt verlassen haben.“ Sie stehe „in einer Reihe mit den großen Konstitutionen der Welt, alle anderen Verfassungen des 20. Jahrhundert überragend, und lebt in ungezählten Töchtern, Enkeln und Urenkeln bis heute fort.“

Der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf zeichnet „die Weimarer Reichsverfassung im deutschen Intellektuellendiskurs“ nach und meint damit die zeitgenössische Debatte.

Der Augsburger Politologe Marcus Lianque beleuchtet „die Weimarer Reichsverfassung und ihre Staatssymbole“, worin wir interessante Hinweise zum Amt des Reichskunstwarts Edwin Redslob finden, dessen Behörde ausgerechnet 1933 aufgelöst wurde.

Die ehemalige Verfassungsrichterin und Bielefelder Staatsrechtslehrerin Gertrude Lübbe-Wolff beschreibt „das Demokratiekonzept der Weimarer Reichsverfassung“. Hier sind die Feststellungen hinsichtlich des bereits in der Verfassung festgelegten Verhältniswahlsystems sowie die unvollständige parlamentarische Verantwortung von Regierungen (S. 116 ff.). Das dahinter stehende Parlamentarismuskonzept habe der konstitutionellen Monarchie näher gestanden als der Demokratie (S. 118). Lübbe-Wolff sieht auch die Tendenz zum Berufspolitiker und konstatiert, dass es nach wie vor umstritten sei, ob die stark ausgeprägten direktdemokratischen Elemente zum Scheitern der Weimarer Demokratie beigetragen habe und zeichnet hier einen Meinungswandel nach (S. 132).

Pascale Cancik aus dem unweit entfernten Osnabrück schildert den „Kampf um die Gleichberechtigung als Voraussetzung der demokratischen Republik“ und liefert hier u. a. Hinweise zu frühen weiblichen Juristenkarrieren.

Wenn man an die allgemeine Überlieferung der Geschichte der Weimarer Republik sozusagen mit juristischem Einschlag denkt, dann gibt es drei Themen, die hier als zentral angesehen werden können: Die Rolle der direktdemokratischen Elemente, der Missbrauch des Notverordnungsrechts nach Art. 48 und die Bedeutung der Grundrechte. Zu den ersten beiden Themen wurde schon Hinweise gegeben. Mitherausgeber Horst Dreier liefert nun mit „Grundrechtsrepublik Weimar“ einen Blick auf den dritten juristisch umstrittenen Themenkreis. Gleich zu Beginn referiert Dreier „die populäre Sentenz“, wonach die Grundrechte in der WRV nur Programmsätze gewesen seien (S. 175). Diese Behauptung, die nicht nur von Historikern, sondern auch von zahlreichen Juristen bis heute aufgestellt wird, widerlegt Dreier hier ausführlich und nennt auch Namen.  Als Urheber der Formel von den „leerlaufenden Grundrechten“ wird dabei Richard Thoma identifiziert (S. 180 ff.).

Im Ergebnis hält der Autor den Titel der Grundrechtsrepublik Weimar für „nicht unangebracht“ (S. 192). Denn letztlich konnte er nachweisen, dass eine differenzierte Betrachtung der zahlreichen Grundrechte notwendig ist und dass die Grundrechte, die letztlich auch Eingang in das Grundgesetz fanden, sehr wohl verbindlich (S. 179 f.).

Michael Stolleis, der nicht nur Verfassungshistoriker, sondern nicht zuletzt auch ein Historiker des Sozialrechts ist, zeichnet „die soziale Programmatik der Weimarer Reichsverfassung“ nach. Hierin finden wir wichtige Hinweise zur Rolle des „linksliberalen Pragmatikers“ Hugo Preuß und vor allem der überragenden Bedeutung des Zentrumspolitikers und Zivilrechtslehrers Konrad Beyerle für die Verfassung und die Grundrechtsgestaltung.

Peter Graf Kielmansegg, selbst ausgebildeter Jurist aber dann als Ordniarius für Politikwissenschaft tätig gewesen, fragt „Der Reichspräsident – ein republikanischer Monarch?“ Auch hier finden wir, diesmal noch ausführlicher, Hinweise auf die Notverordnungspraxis bereits in der Amtszeit Friedrich Eberts (S. 232 ff.) und der Hinweis darauf, dass dies zwischen 1925 und 1930, zu Beginn der Amtszeit seines Nachfolgers Paul von Hindenburg, keine Rolle (S. 234). Als Quintessenz seiner Überlegungen bezeichnet der Autor, dass die Weimarer Republik mit jeder Verfassung hätte scheitern können und mit keiner scheitern musste (S. 238) und dass denen, die die Weimarer Verfassung schufen, das Ende der Republik nicht zuzurechnen sei (S. 239). Dem würden, so lässt sich den übrigen Texten entnehmen, wohl auch die übrigen Autoren des Bandes zustimmen.

Die Berliner Historikerin (HU) Monika Wienfort referiert über „alte Eliten in der neuen Republik“ und liefert hier u. a. Zahlen zur Ablösung von Beamten durch die demokratisch legitimierten Herrscher (S. 256 ff.).

„Weimars Ende und Untergang“ aus der Feder von Dieter Grimm startet mit dem Zerbrechen der großen Koalition unter dem Reichskanzler Hermann Müller als der letzten parlamentarisch legitimierten Reichsregierung, die zudem so lange wie keine andere amtierte und zeichnet den weg bis zum Ermächtigungsgesetz von 1933 nach. Für Grimm ist die WRV nicht irrelevant und legt ihr Ende auf den 24. 3. 1933 (Ermächtigungsgesetz) fest, obwohl sie förmlich nie aufgehoben wurde (S. 286).

Mitherausgeber Christian Waldhoff bindet sozusagen den Band noch einmal ab, indem er nach dem „Nachleben“ des Verfassungswerks von Weimar fragt.

Waldhoff stellt zunächst einen Wandel in der Wahrnehmung der WRV fest und konstatiert, dass diese Verfassung instrumentalisiert wurde und werde „in Bezug auf die jeweilige verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Situation“ (S. 289). In diesem Beitrag wird vor allem auch die Rolle der Staatsrechtslehre und des BVerfG bei Bezugnahmen auf die WRV referiert, wobei die Person Gerhard Leibholz´ als wirkmächtig in Weimarer Republik und früher Bundesrepublik gerade im Hinblick auf seine Gleichheitsdogmatik und Parteienstaatslehre nachgezeichnet wird. Aber auch Werner Weber als früher Kritiker des Grundgesetzes wird ausführlicher gewürdigt und die WRV als Vorbild und Gegenbild für das Grundgesetz skizziert.

Alles in allem: lesenswert und zur Beachtung gerade auch für Historiker und Politologen empfohlen!

Horst Dreier/Christian Waldhoff
„Das Wagnis der Demokratie: Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung“
Verlag C.H. Beck 2018
424 Seiten; 29,95 EUR
ISBN-10: 3406726763

Veröffentlicht von on Apr. 15th, 2019 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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