Aleviten fungieren oft als Mittler zwischen Muslimen und Christen – ein Ortsbesuch in Salzgitter
Benedikt Vallendar
„Wir leben den Islam so, wie er sein sollte“, sagt Celam Uzunhan. Der 53-Jährige sitzt in seinem Büro im Stadtteil Lebenstedt und nippt an einer Tasse Tee. Früher beherbergte das Haus ein Möbelgeschäft, das irgendwann pleiteging. Hauptberuflich ist Uzunhan im Controlling der Volkswagen AG, sagt er. Ehrenamtlich leitet er die Alevitengemeinde in Salzgitter, mit 680 Mitgliedern die größte ihrer Art in Niedersachsen und Norddeutschland. Uzunham ist verheiratet mit einer Landsfrau und hat zwei Kinder. Er ist angekommen, in Deutschland, seiner Wahlheimat, wie er sagt. Seine Tochter studiert Wirtschaft, der Sohn macht eine Ausbildung. Die Familie gehört keiner Minderheit an, gleichwohl deutsche Medien gern das Gegenteil kolportieren. Denn rund ein Drittel aller hierzulande lebenden Türken sind Aleviten. In der theologischen Forschung ist umstritten, ob das Alevitentum ein Teil des Islams oder eine eigenständige Religion ist. Vor allem wegen der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ist es muslimischen Autoritäten von jeher ein Dorn im Auge.
Erdogans Gegner
Über Jahrhunderte war die aus Zentralkleinasien stammende Glaubensrichtung massiver Verfolgung ausgesetzt. Bis heute besteht dieses Problem in der modernen Türkei, wo der amtierende Staatspräsident allem „Unislamischen“ den Kampf angesagt hat. „Und doch sind die Aleviten in der Zentraltürkei bis heute stark vertreten“, sagt die Potsdamer Historikerin Jenny Krämer. Sie bilden oft die Sollbruchstelle zwischen Islam und Christentum, gelten als Brückenbauer und Vermittler zwischen beiden Weltreligionen. In Niedersachsen sind die Salzgitteraner Aleviten regelmäßiger Gesprächspartner für Politiker aller Parteien. 2014 war Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) gar persönlich vor Ort. Größere Gemeinden gebe es auch in Berlin, sagt Cemal Uzunhan. Um im gleichen Atemzug zu fragen, warum sich die Presse denn überhaupt für das Thema interessiere. „Wohl der weltoffenen Art Ihrer Religionsausübung wegen“, bekommt er zur Antwort. „Ja, da sind Sie bei uns genau richtig“, freut sich Uzunhan. Er lehnt sich zurück, schaut aus dem Fenster und beginnt zu erzählen. Wie er 1974 als Zehnjähriger mit Mama und Papa aus der Türkei nach Salzgitter kam, kein Wort Deutsch sprach und nach der Hauptschule die Mittlere Reife bestand. Später studierte er BWL und absolvierte die Technikerschule. Dann machte er Karriere in der Automobilindustrie.
Gebäck und Gastfreundschaft
„Die Gemeinde war und ist mein zweites Zuhause“, sagt Uzunhan. Das weltoffene und tolerante Klima, das das Alevitentum auszeichne, habe ihm direkt zugesagt, erinnert sich Uzunhan an seine Jugendjahre. Und in der Tat. Wer heute das Grundstück der Aleviten in der Marienburger Straße 47a betritt, spürt sofort die herzliche Atmosphäre, mit der Fremde hier willkommen geheißen werden. „Das Gebäck heißt Hawal“, sagt der freundliche Mann am Tresen, während er Tee ausschenkt und das unverschleierte Mädchen hinter ihm Getränkeflaschen einräumt, darunter Bier und Schampus „Ja, wir trinken auch Alkohol“, meint Cemal Uzunhan augenzwinkernd und so, als ob das für einen Türken das Normalste der Welt sei. Bei ihm sei das aber höchstens eine Flasche am Abend, sagt er. „Am liebsten Beck`s“, sagt es und zieht aus dem Regal ein Buch, in dem das Alevitentum erklärt ist und beginnt darin zu blättern. „Die zentralen Merkmale des Alevitentums entwickelten sich zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert“, heißt es dort. Und dass der alevitische Glaube Gewalt und Diskriminierung ablehnt und zum Diskurs mit anderen Religionen aufruft. Das oberste moralische Gebot lautet: „Hüte deine Hände, deine Lenden und deine Zunge“. Monogamie genießt damit denselben Stellenwert wie in der katholischen Kirche, ebenso Gewissensfreiheit, was bedeutet, dass niemand Nachteile zu befürchten hat, wenn er die Gemeinschaft verlässt, um sich etwa taufen zu lassen, sagt Uzunhan. Gefordert werden zudem „von Frauen dominierte Familienstrukturen“ sowie die Weitergabe des Glaubens durch Literatur, Theater und Musik, was in den Ohren mancher muslimischer Gelehrter an Blasphemie grenzt. „Folkloretänze, Sazkurse und Lesekreise bestimmen unseren Wochenrhythmus“, beschreibt Uzunhan das Gemeindeleben. Die Saz ist ein gitarrenähnliches Instrument, das vor allem im Nahen Osten und Iran verbreitet ist.
Zurück in die Türkei
Doch scheinbar nicht alle Aleviten fühlen sich in der Bundesrepublik heimisch. Denn viele der älteren hegen den Wunsch, in ihrer Heimat begraben zu werden, was mit erheblichen Kosten verbunden ist. „Wir haben eine Stiftung gegründet, aus der jedes Mitglied zweieinhalb Tausend Euro bekommt, wenn es darum geht, einen verstorbenen Angehörigen in die Türkei zu transferieren“, sagt Uzunhan. Viele hätten das Angebot schon angenommen, und das trotz teils vieler in Deutschland verbrachter Jahre und Jahrzehnte. „In Deutschland lässt sich gut leben und arbeiten, aber im Alter ist das Heimweh eben doch übermächtig“, meint eine Frau im Gemeindesaal. Erst wenige Tage zuvor ist ihr Vater verstorben, nun trauert die ganze Familie, und mit ihr die Gemeinschaft. „Gebete und Meditation können das Leiden lindern, doch nur selten heilen“, sagt die junge Frau. Was nur wenige wissen: „Kaum ein Alevit betet fünfmal am Tag oder geht zum Freitaggebet in die Moschee“, sagt Uzunhan. Dies gehöre nicht zum religiösen Brauchtum. „Wir beten keine rituellen Gebete, unser Gebet ist flehentliches Bitten“, sagt er. Es sei dieses Miteinander, diese Balance zwischen Kontemplation, täglicher Arbeit und kultureller Geselligkeit, die das Alevitentum auszeichnet. Und bei der auch der Sport nicht zu kurz kommt. Im Jugendraum hängen Fotos mit Fußballmannschaften, und auf einem Regal reiht sich Pokal an Pokal. „Als vor vier Jahren die Flüchtlinge kamen, sind wir in die Unterkünfte gegangen und haben mit denen gespielt“, erzählt Uzunhan. Noch heute seien einige der Flüchtlinge bei ihnen aktiv. Der Fußball sei ein erster Schritt gewesen, um in der neuen Heimat Fuß zu fassen, ist der Alevitenchef überzeugt, der weitere Pläne in der Schublade hat. Schon in Kürze bietet die Gemeinde Sommerkurse und Nachhilfestunden an, damit Schulabschlüsse erworben oder nachgeholt werden können. Dass ein Großteil der Schulabbrecher in Deutschland aus türkischen Migrantenfamilien stammt, weiß auch Uzunhan, den das schmerzt und der im Alevitentum eine Möglichkeit sieht, in der deutschen Mehrheitsgesellschaft anzukommen.