Christoph Gusy legt mit seinem dritten Buch über die „WRV“ eine Studie über ihre Entwicklungsverläufe vor
Matthias Wiemers
Die Weimarer Reichsverfassung wird 100 Jahre. Der Bielefelder Öffentlichrechtler Christoph Gusy, der sich bereits zweimal mit einem Buch über das Verfassungswerk der in Weimar tagenden Nationalversammlung befasst hatte, legt nun ein noch recht knappes Werk über ihre Entwicklung vor. Darin wird in insgesamt zehn Kapiteln dargelegt, wie die Verfassung entstanden ist und wie sie sich fortentwickelt hat.
Dabei bildet das erste Kapitel („Was wir von der Weimarer Verfassung wissen können“) nicht nur einen Einstieg in den Text, sondern zeigt auch die zeitgenössische Situation auf: die Debatte um eine neue Reichsverfassung wird ebenso dargestellt wie ihr Kontext aus neuen Länderverfassungen und Verfassungen des Auslands, die zur gleichen Zeit entstehen. Im ersten Kapitel ist gewissermaßen schon ein Gesamtüberblick über den Inhalt des Buches mitgegeben. Darauf liefert Gusy im zweiten Kapitel detaillierte einen Bericht zur Entstehungsgeschichte der WRV, wo selbstverständlich die besondere Rolle des ersten Entwurfsverfassers Hugo Preuß herausgestellt wird. Schon hier taucht das „Gegen- oder Gleichgewichtskonzept“ einer doppelten Legitimation des Regierungssystems durch Parlamentarismus und Volkswahl eines Staatsoberhaupts auf (S. 47), das sich durch den gesamten weiteren Band ziehen wird. Die Nationalversammlung sieht Gusy in seiner Zusammenfassung als „verfassunggebende Gewalt des Volkes in Aktion“.
Vom dritten Kapitel über „Die Weimarer Verfassung im Richtungsstreit“ darf der Leser keine detaillierte Darstellung des Weimarer Richtungsstreits in der Staatsrechtslehre erwarten. Er bleibt hart am Gegenstand der Verfassung und ihrer Institutionen, ohne zu sehr auf die Akteure des Richtungsstreits und insbesondere auf die Staatsrechtslehrertagung 1926 in Münster einzugehen. Es werden vielmehr Denkrichtungen und Entwicklungslinien aufgezeigt. Am Schluss des Kapitels stellt Gusy fest, der Blick zurück auf die WRV sei lange durch die früheren Kritiker der WRV, ihre Schüler und Nachfolger vermittelt worden, die sich zwischen die Gegenwart und die erste deutsche Republik geschoben hätten (S. 107).
Im vierten Kapitel beginnt die Darstellung „wichtiger Institutionen und Konflikte“ (Gusy), und zwar mit dem bereits angedeuteten gemischten Demokratiekonzept der WRV, wobei auch hier noch einmal zurückgeblickt wird auf die Verfassungsberatungen (S. 118 ff.). Eine sehr wichtige Feststellung findet sich auf S. 135: „Schon damals war der Parteienstaat nicht der geborene Gegner, sondern Erfolgsbedingung der politischen Wirksamkeit des Volkes. Direkte Demokratie und Parteienstaat waren keine Gegensätze, sondern Korrelate.“ Dem kann man nur zustimmen mit dem Hinweis, dass bei der Einführung von mehr direkt-demokratischen Elementen es gerade wieder die Parteien sind, die bestrebt sein müssen und werden, diese unter ihre Kontrolle zu bringen. Zu recht stellt der Autor auch fest, Plebiszite seien keine Krisenursachen, sondern Krisenindikatoren gewesen (S. 136) und resümiert, es spreche „nahezu nichts dafür, dass gerade historische Erfahrungen die Ablehnung plebiszitärer Elemente im Grundgesetz motivierten“ (S. 139). Die These von der Republik, die (auch) an ihren Plebisziten gescheitert ist, sei eine „ex-post-Erfindung der Zeit seit 1948“ (S. 142).
Noch einmal um die Demokratie geht es in Kapitel fünf („Pluralistische und Parlamentarische Demokratie“), worin es u. a. gerade um den bereits zitierten Parteienstaat geht, der bekanntlich in dieser Zeit von Gerhard Leibholz „erfunden“ wurde. Auch hier das positive Fazit, dass der Weimarer Parlamentarismus besser gewesen sei als sein Ruf (S. 169).
Was im fünften Kapitel bereits angedeutet wurde, nämlich der seit 1931 vorgezeichnete „Weg in den Präsidialstaat“ (S. 164) wird nun Gegenstand des gesamten sechsten Kapitels („Von der parlamentarischen zur präsidialen Republik“).
Im siebten Kapitel geht es um den „Republikschutz: Vom Verfassungsschutz zur Verfassungsbeseitigung.“ Man könnte diesen Titel auch dahingehend übersetzen, dass man sagt, von der Republikanisierung (sprich: Parteipolitisierung) von Regierung und Verwaltung (explizit im Jahre 1923, bezeichnet als „System Severing“) bis zum „Preußenschlag“ (1932).
Das achte Kapitel ist den Grundrechten und Grundpflichten gewidmet, die Gusy als „Sozialverfassung der Republik“ bezeichnet, und worin gleich zu Beginn konstatiert wird, dass in der WRV moderne Grundrechtskataloge etwa der Europäischen Grundrechtecharta vorweggenommen worden seien (S. 236). Anders sah es allerdings in der realen Anwendung von Grundrechten aus. Nach Auskunft des Autors judizierten die Staatsgerichtshöfe und Zivilgerichte eher einmal auch in Grundrechtsfragen, während Verwaltungsgerichte weniger und Strafgerichte sich so gut wie gar nicht mit Grundrechten befassten (S. 273).
Das neunte Kapitel wiederholt noch einmal Vorgängiges, ist aber mehr noch auf das Ende der Republik fokussiert. Der Titel „Demokratische Verfassungsänderung – Selbstschutz oder Selbstpreisgabe der Verfassung“ ist vielleicht ein wenig missverständlich gewählt. Hierin geht es natürlich um die Anwendung von Notstandsbefugnissen mit dem berühmten Artikel 48 WRV im Zeitraum. Gusy wiederholt hier seine alte These, wonach die WRV seit 1930 praktisch leergelaufen sei (S. 280). Darin wird auch die Frage behandelt, wie legal eigentlich Hitler 1933 an die Macht gekommen sei. Mit überzeugenden Argumenten wird das leider immer noch grassierende Märchen von der „legalen Machtergreifung“ widerlegt und insbesondere die Illegalität des „Ermächtigungsgesetzes“ von 1933 nachgewiesen (S. 292 ff.).
Im letzten, noch einmal resümierenden Kapitel („Verfassung als Chance – Chancen einer Verfassung“) finden wir Aussagen wie den Untertitel des Bandes „Eine gute Verfassung in schlechter Zeit“ und von der „WRV als Meilenstein von Freiheit und Demokratie in der Verfassungsgeschichte“. Alles in allem hat Gusy hier noch einmal einen wichtigen Beitrag zur in diesem Jahr allfälligen Diskussion über die Weimarer Reichsverfassung geleistet, die mit ihren 100 Jahren nun vielleicht erstmals aus dem Schatten des erst siebzigjährigen Grundgesetzes hinaustritt. Die Neuerscheinungen allein auf dem rechtshistorischen Buchmarkt allein seit 2018 bestätigen diese These.
Wer sich etwa mit europäischer Verfassungsvergleichung beschäftigt, wird bestätigt finden, welche Rolle die „WRV“ im Konzert der europäischen Verfassungen bis heute spielt.
Christoph Gusy, 100 Jahre Reichsverfassung. Eine gute Verfassung in schlechter Zeit, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2018, 328 S., 34 Euro (ISBN 978-3-16-155343-1)