Anmerkungen zum EuGH-Urteil über die Erfassung der Arbeitszeit
Thomas Claer
Ob sich die Luxemburger EuGH-Richter wirklich im Klaren darüber gewesen sind, was sie da – in bester Absicht – entschieden haben? Laut ihrem jüngsten Urteil (EuGH C-55/18 vom 14.5.2019) müssen die Mitgliedstaaten der EU künftig Arbeitgeber dazu verpflichten, die sogenannte tatsächliche Arbeitszeit ihrer Beschäftigten genau zu erfassen, ob Überstunden, Home Office oder Außendienst. Was zunächst wie ein Griff in die Mottenkiste der Lohnsklaven-Disziplinierung aus dem Industrie-Zeitalter aussieht, hat freilich eine ganz andere Zielrichtung. Denn längst ist die Verschmelzung von Arbeits- und Freizeit, die vielgepriesene neue Flexibilität, immer öfter zum Verlustgeschäft für Arbeitnehmer geworden. Wer Tag und Nacht für seinen Chef erreichbar ist, sich Arbeit mit nach Hause nimmt und von früh bis spät dienstliche Mails checkt, gerät leicht in die Selbstausbeutungs-Falle. Nun sollen die Beschäftigten also mittels Zeit-Controlling vor ihren Chefs geschützt werden – und womöglich auch vor ihrem eigenen Ehrgeiz oder Pflichtgefühl. Ausdrücklich berufen sich die Richter auf die Grundrechte-Charta der Europäischen Union. Demnach ist die Einhaltung von Höchstarbeitszeiten und Ruhepausen ein unabdingbares Arbeitnehmer-Grundrecht, das sich aus der Menschenwürde ableitet. Höchstens 48 Stunden Arbeit pro Woche sind erlaubt, täglich sind mindestens 11 Stunden Ruhezeit ohne Unterbrechung und mindestens einmal in der Woche 24 Stunden Ruhezeit zu gewähren.
Aber wie soll man sich die technische Umsetzung einer solchen Arbeitszeit-Erfassung, solch einer Stechuhr 2.0, vorstellen? Die Chipkarte im Büro wäre noch die konservative Variante, weitaus zeitgemäßer (und wohl kaum noch aufzuhalten!) wären ein entsprechendes Programm auf dem Laptop oder eine App auf dem Smartphone. Jedes Login in den dienstlichen E-Mail-Account von außerhalb der Diensträume würde dann also genau nach Minuten und Sekunden gezählt und der bezahlten Arbeitszeit zugeschlagen.
Wie so etwas allerdings mit den Richtlinien des Datenschutzes vereinbar sein könnte, steht derzeit noch in den Sternen. Denn wenn der Arbeitgeber Programme auf dem Laptop oder Handy seines Angestellten installierte – wären dann dem Missbrauch persönlichster und sensibelster Daten nicht Tür und Tor geöffnet? Wäre es da nicht nur noch ein kleiner Schritt zum vielzitierten gläsernen Mitarbeiter?
Vermutlich käme alles sogar noch viel schlimmer: Denn so wie heute bereits jeder Fußballprofi während seiner Pflichtspiele und im Training unter lückenloser technischer Beobachtung steht, wäre dann nämlich auch in diversen Büro-Jobs für die Arbeitgeber vollkommen transparent, wie viel Zeit ihre Angestellten für die Erfüllung dieser oder jener Aufgabe benötigen, das heißt: wie effektiv sie funktionieren. Konnten „Minderleister“, die Mühe haben, alle ihre Aufgaben in der regulären Arbeitszeit zu schaffen, dies bisher noch gut kaschieren“, indem sie sich unauffällig Arbeit mit nach Hause nahmen, wird dies künftig nicht mehr so leicht möglich sein. Für Firmenchefs ist das natürlich großartig: Nur die nachweislich effektiven Mitarbeiter werden gehalten, der Rest wird früher oder später („betriebsbedingt“) gefeuert. Und wer in der Arbeitszeit mal eben schnell privat im Netz unterwegs ist, fliegt dann natürlich auch gleich auf – und später womöglich ebenfalls raus.
Die eigentliche Problematik liegt aber im zugrundegelegten Menschenbild. Bei Lichte betrachtet ist die EuGH-Entscheidung nämlich nicht weniger als ein Anschlag auf die elementarsten Freiheitsrechte des Individuums. Konsequent zu Ende gedacht, müssten jedem Arbeitnehmer, sobald dies technisch möglich und rentabel umsetzbar wäre (und das wird es schon sehr bald sein!), Dioden an den Kopf geheftet oder besser gleich ins Gehirn implantiert werden, die seine Denkströme erfassen. Wer im Büro einen Moment lang einfach nur döst und vor sich hin träumt (was sich anhand der Durchblutung der einzelnen Gehirnregionen leicht feststellen lässt), arbeitet in dieser Zeit schließlich nicht. Und schon gar nicht arbeitet der, bei dem, was sich ebenfalls leicht feststellen lässt, z.B. die Gehirnregionen für sexuelle Erregung aktiviert sind. Oder die für Hunger und Durst. Andererseits müsste es dann aber auch der (bezahlten) Arbeitszeit zugerechnet werden, wenn jemand den ganzen Feierabend und die halbe Nacht über einem dienstlichen Problem brütet. Genau genommen dürfte man so etwas aber gar nicht tun, denn dann hätte man doch die Ruhezeit nicht eingehalten! Aber wie sinnvoll ist es überhaupt, nur das Tippen eines Textes, den man vielleicht längst fertig formuliert im Kopf mit sich herumträgt, zur Arbeitszeit zu zählen, nicht aber die gedankliche Vorarbeit, die man z.B. längst in der Warteschlange an der Supermarktkasse verrichtet hat? Kurz gesagt, wer wirklich die „tatsächliche Arbeitszeit“ der Arbeitnehmer genau messen will, wie es die EuGH-Richter von allen Arbeitgebern gefordert haben, wird um eine vollständige technische Überwachung ihrer Gehirnaktivitäten nicht herumkommen. So würde letztlich „Stechuhr 2.0“ zu „George Orwell 2.0“.
Aber ist so etwas denn wirklich ernsthaft zu befürchten? Nein, zum Glück ist es das nicht. Jede Überwachung der menschlichen Gehirnaktivität durch den Arbeitgeber würde natürlich eklatant gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Betroffenen und ihre Menschenwürde verstoßen und hätte rechtlich somit keinen Bestand. Zumindest nicht hier und jetzt. Woanders in der Welt – und in einer dystopischen Zukunft vielleicht irgendwann auch hierzulande – liegt die vollständige und dann natürlich auch ihrerseits voll automatisierte Kontrolle über das menschliche Denken leider durchaus im Bereich des Vorstellbaren. Im Übrigen hätten wir dann genau das verwirklicht, was von alters her schon alle Religionen behaupten: Jeder Mensch steht in seinem Denken und Tun permanent unter der Beobachtung einer höheren Instanz, die ihm am Ende seines Lebens die „moralische Bilanz“ seiner Handlungen und Gedanken präsentiert.
So weit sind wir also glücklicherweise noch nicht gekommen. Dennoch sind die EuGH-Richter in ihrem scheinbar so arbeitnehmerfreundlichen Urteil einen kleinen, aber bereits gefährlichen Schritt in diese Richtung gegangen. Wenn uns unsere individuellen Freiheitsrechte also lieb sind, dann muss eine technische Überwachung von Laptop und Handy durch den Arbeitgeber weiterhin Tabu bleiben. Es liegt nun am Gesetzgeber, hier einen Riegel vorzuschieben. Sollen die Arbeitnehmer doch selbst manuelle Stundenlisten führen, um den Vorgaben der Luxemburger Richter Genüge zu tun.