Er irrt sich ständig!

Erlinger_WennSiemichfragenRainer Erlingers unterhaltsame Moralkolumnen als Taschenbuch

Thomas Claer

Was richtig und was falsch ist im Leben, wie man sich in dieser oder jener Situation am besten verhalten sollte, wer weiß das schon immer ganz genau? Da ist es doch schön, dass es jemanden gibt, der mehr weiß als wir alle. Unzählige Leser des Magazins der Süddeutschen Zeitung fiebern Woche für Woche der Erlinger-Kolumne entgegen, die es inzwischen zu einiger Berühmtheit gebracht hat. Jeden Freitag beantwortet Dr. jur Dr. med Rainer Erlinger, Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Medizinrecht aus München, eine konkrete Frage der Alltagsmoral, die ihm von einer Leserin oder einem Leser angetragen wurde. Er führt das Problem dann zumeist auf widerstreitende moralphilosophische Grundprinzipien zurück, wägt das Für und Wider gewissenhaft ab – und fällt dann sein salomonisches Urteil. Das Problem und gleichzeitig das Schöne dabei ist aber, dass seine Ratschläge so oft dem eigenen Urteil widersprechen. Man kann sich als langjähriger süchtiger Leser seiner Kolumne so wunderbar über ihn aufregen!

Beispielhaft seien hier nur drei besonders eklatante Fehlurteile aufgeführt: Erster Fall: Es fragt ein Leser, der neben einer türkischen Frau mit Kopftuch an der Supermarktkasse steht und sieht, wie diese Gummibärchen mit Gelatinezusatz für ihre Kinder kauft, allen Ernstes, ob er die Dame nicht eigentlich darauf hinweisen müsste, dass der Gelatinezusatz vom Schwein stammt und daher in ihren Augen doch bestimmt nicht helal sein wird. Und was antwortet Erlinger darauf? Gewiss doch, man müsse sich stets um seine Mitmenschen bemühen und sie darauf aufmerksam machen, wenn ihnen Unheil drohe – und sei es auch nur nach ihren eigenen Maßstäben. Ich spare mir hier eine ausführliche Begründung meiner Auffassung, dass sich jemand, der so fragt, nicht wundern sollte, wenn er – Pardon! – mal „eine reingehauen“ bekommt. Die einzig angebrachte Antwort auf ein solches Ansinnen wäre der Satz – Nochmal pardon! – „Verarschen kann ich mich alleine.“

Zweiter Fall: Da wurde unser Moralkolumnist regelrecht ausfällig gegen Knoblauch- und sogar Bärlauchesser. Die sollten das, Erlinger zufolge, entweder bleiben lassen oder nicht unter Menschen gehen. Ja, wo leben wir denn? Es verbietet sich zwar an dieser Stelle, noch irgendetwas gegen die Raucher zu sagen, das wäre übelstes Nachtreten. Aber wer Knoblauch isst, tut das in der Regel nicht im Büro, und die Folgeausdünstungen sind denen der Raucher nach der Zigarettenpause in der Intensität vergleichbar. Schließlich fiele es doch auch nicht dem militantesten Nichtraucher ein, den Rauchern den sozialen Umgang nach ihrem Laster zu verbieten. Sollen die Knoblauchverächter doch einfach Abstand halten!
 
Dritter Fall: Ein Leser aus München fragte, ob es unmoralisch sei, wenn er als Student manchmal zur Aufbesserung seines Salärs im Park herumliegende Pfandflaschen mitnehme. Man habe ihn ermahnt, er würde so die Obdachlosen um ihre Einnahmequelle bringen. Genau, sagt Erlinger, die Pfandflaschen sind für die Obdachlosen. So schlecht gehe es keinem Studenten, dass er so etwas machen müsse. Na meine Herren! In unserem Berliner Kiez sammelt einer, wahrscheinlich ein „Hartzer“, tagaus, tagein Pfandflaschen in großer Zahl. Wenn er vor mir am Pfandflaschenautomat bei Edeka steht, muss ich manchmal schon sehr lange warten, bis er endlich alle im Gerät versenkt hat. Der ist mitnichten ein Obdachloser, der wohnt schräg gegenüber von uns. „Nach Pfandflascheneinnahmen“ hat er sicherlich mehr im Portemonnaie als so mancher Student – außer im Winter, da sieht es deutlich schlechter aus. Ist dieser Mann jetzt auch unmoralisch, weil er den Obdachlosen etwas wegnimmt? Oder ist derjenige unmoralisch, der diesem Manne „seine Pfandflschen“ wegnimmt, weil die doch zu seinem Lebensunterhalt beitragen? Oder sind womöglich alle die unmoralisch, die ihre Pfandflaschen für ihn liegen lassen, da er sich doch seine Einnahmen bestimmt nicht auf sein Hartz IV anrechnen lässt? Andererseits arbeitet er härter für sein Geld als manch anderer … 

Sicherheitshalber keinen Kommentar gebe ich zu folgendem Fall ab: Ein Leser hat ein 9-Uhr-S-Bahnticket. Sein Zug, den er unbedingt nehmen muss, um rechtzeitig bei der Arbeit zu sein, fährt um 8.58 Uhr ab. Bis zur nächsten Station gibt es niemals Kontrollen. Unmoralisch? Klar, sagt Erlinger. Auch bei Kleinigkeiten, sagt er, muss es immer ums Prinzip gehen. Selbstverständlich begrüßt er auch die Kündigungen wegen eines Kassenbons, eines Brötchens oder einer Frikadelle im Grundsatz und plädiert allenfalls für punktuelle Gnade im Einzelfall. Manchmal spricht Erlinger aber auch dem Leser aus dem Herzen: Wer nur verschenkt, was ihm selbst gefällt, aber dem Beschenkten vielleicht nicht, beschenkt sich doch letztlich nur selber. Dies und vieles andere nachlesen kann man mittlerweile in mehreren Sammelbänden, von denen der hier anzuzeigende nun auch als Taschenbuch vorliegt. Da kann man nur allen Lesern eine muntere Diskussion wünschen!

Rainer Erlinger
Wenn Sie mich fragen: Antworten zu Fragen der Alltagsmoral
Taschenbuch
Goldmann Verlag 2009
272 Seiten, EUR 7,95
ISBN-10: 3442169941

Veröffentlicht von on Jan 18th, 2010 und gespeichert unter DR. CLAER EMPFIEHLT. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

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