Wie man mit der Macht des Internets im Allgemeininteresse umgeht

Volker Boehme-Neßler versucht sich an der Herausforderung der Digitalisierung

Matthias Wiemers

Den Titel des hier vorzustellenden Bandes trennt nur das Fragezeichen vom gleichnamigen Buch der Juristin und Internetexpertin Yvonne Hoffstetter von 2017, auf das der Autor auch gelegentlich in den Fußnoten eingeht. Boehme-Neßler ist allerdings nicht nur Professor für öffentliches Recht an der Universität Oldenburg, sondern auch promovierter Politikwissenschaftler und hat ein interessantes Oeuvre, das sich nicht in herkömmliche Disziplinschubladen einsortieren lässt.
Wer sich allerdings auf gut 140 Seiten anschickt, ausweislich des Untertitels „Effekte der Digitalisierung aus rechtlicher, politologischer und psychologischer Sicht“ zu behandeln, nimmt sich viel vor. Schon zu Beginn steht deshalb zu befürchten, dass keine der solchermaßen behandelten Disziplinen zufriedenstellend behandelt wird. Der Rezensent beschränkt sich hier von vorneherein auf sein eigenes Fach, die Rechtswissenschaften.
Schon im ersten, sehr knappen Kapitel, das den Titel aufnimmt, beantwortet der Autor die selbst gestellte Frage klar mit einem Nein und betont, dass die Digitalisierung aber sicherlich das Ende der Demokratie darstellt, „wie wir sie kennen“ (S. 2). Dieser Satz muss als das Untersuchungsprogramm der Studie angesehen werden. Im zweiten Kapitel wird Entgrenzung als Kern der Digitalisierung dargestellt: physisch, sozial, sozialpsychologisch, durch die allgegenwärtige Computertechnik und ihre zusätzliche Überwindung der Grenzen zwischen Computertechnologie und Biologie. Nachdem er mögliche Grenzen der Entgrenzung diskutiert hat, wirft der Autor die Frage nach dem Ende des Staates auf und konstatiert einen Wandel, aber kein Verschwinden des Staates (S. 16 ff.). Die nochmals aufgeworfene Frage nach dem Ende der Demokratie versucht, die Demokratie vom Staat abzulösen, indem der Kern der Demokratie in den individuellen Rechten und Interessen der Bürger gesehen wird (S. 24). Was ein Bürger sein soll und ob ein Bürger vielleicht einen Bezug zu einem Territorium aufweisen muss, wird nicht näher problematisiert. Das Beziehen demokratischen Denkens auf den Staat wird als Zufall bezeichnet (S. 23 und öfter). Dies genau ist eine Frage, die der näheren Auseinandersetzung bedurft hätte! Wohl zutreffend wird die Auflösung der Öffentlichkeit in viele Öffentlichkeiten beschrieben (S. 40), aber ob „für die hochgradig segmentierten, supranationalen und multikulturellen Gemeinschaften, die durch die Globalisierung und Digitalisierung entstehen“, die Mehrheitsdemokratie untauglich ist (S. 41), ist doch die Frage.
In der Folge werden zahlreiche Trends und Entwicklungen m. E. zutreffend beschrieben. Das dritte Kapitel lautet „Zersplitterung – Viele Welten, eine Demokratie?“ Die Lösungsansätze, etwa eine staatliche oder europäische Suchmaschine zu schaffen, wobei der Suchalgorithmus unter Kontrolle der Öffentlichkeit weitergeschrieben werden müsste, wirft sofort die Frage auf: von welcher der vielen Öffentlichkeiten?
Zutreffend ist die zu Beginn des vierten Kapitels gestellte Frage, wie sich Algorithmen demokratisch einhegen lassen und die Forderung aufgestellt, es sei „an der Zeit, dass die Politik diese Machfrage in aller Schärfe stelle“ (S. 59). In diesem Kapitel wird das alte Problem der Legitimität des Technikrechts detailliert diskutiert, was bezüglich der Digitalisierung dringender ist denn je. Zu recht stellt Bohme-Neßler fest, Selbstverwaltung (der Nerds) könne „ungleiche ökonomische, soziale und politische Stärkeverhältnisse, die auch im Internet und in Internet-Communities bestehen, nicht ausgleichen“ (S. 69). Zutreffend ist auch die Beschreibung und Bewertung des Scoring (etwa beim predictive policing). Der Grundgedanke der Klassifizierung. widerpreche der Menschenwürde diametral (S 72). Nur unterstrichen werden kann die Feststellung, die Logik der Informatik sei eine andere als die Logik der Verfassung (S. 73) . Online-Wahlen werden diskutiert und problematisiert. Boehme-Neßler diskutiert auch das Transparenzversprechen des Netzes und beschreibt das Entstehen von Monitoring-Organisationen wie abgeordnetenwatch. Digitale Technik wird im Ergebnis als Chance und Risiko der (repräsentativen) Demokratie bezeichnet (S. 86). Man darf zweifeln. Näher problematisiert wird dies in Kapitel 5 „Überforderung – Die klassische Demokratie“, worin es vor allem um die Erhöhung der Komplexität geht und worin Demokratie zu recht als eine langsame Regierungsform bezeichnet (S. 100). Am Ende dieses Kapitels erblickt Boehme-Neßler die Lösung in der Formel „Legitimationsniveau statt Legitimationskette“ (S. 109 ff.). Hiermit greift er zwar die jüngere Rechtsprechung des BVerfG seit der Entscheidung zum lippischen Wasserband (BVerfGE 107, 59 ff.) auf, ohne allerdings in eine vertiefte Analyse einzutreten, die man sich aus verfassungsrechtlicher Sicht gewünscht hätte. Im abschließenden sechsten Kapitel „Komplexitätsmanagement – Neuerfindung der Demokratie“ wird versucht, „Minimalstandards der Demokratie“ herauszuarbeiten, Als „kristalliner Kern“ von Demokratie wird das Ziel herausgearbeitet, „Menschenwürde und Menschenrechte im politischen Prozeß zu verwirklichen“ (S. 124), dem man ohne weiteres zustimmen kann. Zum kristallinen Kern von Demokratie gehören dann auch „die Rechtsordnung und die Organisation des Staates“ (S. 124), womit schon fast nicht mehr zu rechnen war. Kommunikation und nicht der Staat sei aber der Kern der Demokratie (S. 133).
Am Ende ist Boehme-Neßler optimistisch: „Eine Erkenntnis ist wichtig. Der Prozess der Digitalisierung ist unaufhaltsam. Die Zukunft ist weitgehend digital. Ob sie trotzdem auch demokratisch ist, entscheidet sich jetzt. Digitalisierung lässt sich politisch gestalten. Eine Neuerfindung der Demokratie im digitalen Zeitalter ist möglich. Es kommt auf den politischen Willen und die demokratische Kreativität an. Die Zeit ist gekommen für demokratische Experimente und für eine neue Demokratie der digitalisierten Welt“ (S. 140).
Woher der Autor diesen Optimismus im Kern nimmt, ist eine offene Frage. Gerade die Prognose der Unaufhaltsamkeit ist häufig die Ausrede für politische Verantwortungslosigkeit und Tatenlosigkeit. Ohne einen staatlichen Anker, auf den sich die Zugehörigen als Bürger beziehen können und der verbindliche Entscheidungsverfahren bereitstellt, dürfte sich die Demokratie nicht erhalten lassen. Die totale Digitalisierung entfaltet Herrschaft qua Effizienzsteigerung, wie sie sich Neil Postman mit seinem „Das Technopol“ (1992) wohl nicht vorstellen konnte.
Gleichwohl: Der Autor hat eine Fülle von Erkenntnissen (und auch jeweils an das Ende eines jeden Kapitels gestellte) zusammengetragen, die zum Weiterdenken anregen.

Volker Boehme-Neßler, Das Ende der Demokratie? Effekte der Digitalisierung aus rechtlicher, politologischer und psychologischer Sicht, Springer Verlag, Berlin 2018, 145 S., 89,99 Euro

Veröffentlicht von on Jun 3rd, 2019 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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