Der amerikanische Politologe liefert Ansätze zum Verständnis des politischen Wandels in (westlichen) Demokratien
Matthias Wiemers
Wohl kaum ein Autor ist so häufig pauschal zitiert wie wenig gelesen worden wie der heute in Stanford lehrende Politologe Francis Fukuyama mit seinem Bestseller „Das Ende der Geschichte“ von 1992. (Dabei sei darauf hingewiesen, dass der deutsche Staatsrechtslehrer Martin Kriele 1991 ein Taschenbuch u. d. T. „Die demokratische Weltrevolution. Warum sich die Freiheit durchsetzen wird“ veröffentlichte.) Hatte der dem Buch vorausgehende Aufsatz noch am Ende ein Fragzeichen enthalten, so wurde dies bei dem Buch nicht mehr wahrgenommen. Die Mühe der Lektüre machten sich wenige, und so sieht sich der Autor zu Beginn seines aktuellen Werks dazu bemüßigt, es noch einmal zu erklären. Er habe „Geschichte“ in einem hegelianisch-marxistischen Sinne gemeint, als „langfristige evolutionäre Beschreibung menschlicher Institutionen“ (S. 12). Überhaupt entpuppt sich der Autor als hervorragender Kenner namentlich der deutschen Geistesgeschichte. Neben Hegel tritt vor allem Kant auf, und sehr schnell merkt der Leser, dass Fukuyama als profunder Kenner der Entwicklung des Westens insgesamt gelten kann.
Den Ausgangspunkt für das Schreiben des Buches markiert Fukuyama mit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, den er als Repräsentanten eines internationalen Trends sieht, direkte charismatische Beziehungen zum Volk herzustellen und durch Bestimmung des Volks nach ethnischen Kriterien große Teile der jeweiligen Bevölkerung auszuschließen.
Fukuyama beschreibt zunächst die zunächst ansteigende, dann wieder rückläufige Entwicklung bei den repräsentativen Demokratien. Schon am Ende seines Vorworts wird deutlich, dass Hegel der für Fukuyama bestimmende klassische Autor ist, wenn er konstatiert, dieser habe festgestellt, die Menschheitsgeschichte werde durch das Ringen um Anerkennung vorangetrieben (S. 16). Wer sich wundert, dass die ökonomisch Benachteiligten ausgerechnet den Milliardär Trump wählen, findet in dem Buch zahlreiche Hinweise. So weist der Autor im ersten Kapitel („Die Politik der Würde“) darauf hin, das Links-Rechts-Schema scheine in vielen Ländern von einem durch Identität definierten Angebot verdrängt zu werden. Die Linke richte ihr Augenmerk nicht mehr auf die Herstellung ökonomischer Gleichheit, sondern darauf, „die Interessen einer Vielfalt von benachteiligten Gruppen zu unterstützen“, während den Rechten vor allem der Patriotismus am Herzen liege (S. 23). Im zweiten Kapitel („Der dritte Teil der Seele“) wird der durch „Zorn“ nur unzureichend übersetzte Begriff des „Thymos“ behandelt. Dieser Teil der Seele sei – in Anlehnung an Sokrates – der dritte Teil der Seele (d. h. der Psyche) neben Begehren und Vernunft, was so viel wie Zorn, aber auch Stolz bedeute (S. 35). Dieser Thymos sei der Kern der heutigen Identitätspolitik (S. 36).
Im dritten Kapitel („Innen und Außen“) wird die Geburt der Identitätsidee im Westen mit Luther und der Reformation verbunden (S. 44). Mit Luther habe maßgeblich die Unterscheidung zwischen Innerem und Äußerem und die Betonung des Ersteren begonnen (S. 46). Rousseau habe das von Luther (theologisch) eröffnete Innenleben säkularisiert und generalisiert (S. 51 f.).
Gleichwohl habe sich Rousseau u. a. darin geirrt, dass frühe Menschen von Natur aus individualistisch gewesen seien (S.52).
„Von der Würde zur Demokratie“ lautet der Titel des vierten Kapitels, worin die private Suche nach dem Selbst zu einem politischen Projekt bezeichnet wird, das dann zur Demokratie führt. „Revolutionen der Würde“, so der Titel des fünften Kapitels, beschreiben Entwicklungsstufen im „Verlangen nach einheitlicher Anerkennung der Würde“, das nach Einschätzung des Autors von der Französischen Revolution ausgelöst wurde, und Fukuyama beschriebt hier die jüngeren Entwicklungen des Arabischen Frühlings und etwa die in der Ukraine.
„Expressiver Individualismus“ setzt sich einerseits mit der universalen Anerkennung von Individualrechten, aber auch mit dem Nationalismus und seiner Verbindung mit Religion auseinander. Eine wichtige Feststellung darin ist die einer „Identitätskrise, die zu einer dem expressiven Individualismus entgegengesetzten Richtung führt, zur Suche nach einer gemeinsamen Identität, welche die Gruppe erneut in eine soziale Gruppe einbindet und einen klaren moralischen Horizont wiederherstellt.“ Diese psychologische Tatsache bilde die Grundlage für den Nationalismus (77). „Nationalismus und Religion“ (Kap. 7) bereitet auf Kapitel acht vor („Die falsche Adresse“), das die Frage noch einmal aufwirft, wie sich das Unvermögen der Linken, die globale Ungleichheit für ihre Zwecke zu nutzen, und der Aufstieg der nationalen Rechten an ihrer Stelle erklären lassen (S. 103). Eine Antwort gibt es hier noch nicht, wohl aber die Beschreibung, wer arm sei, werde für seine Mitmenschen unsichtbar, und die Schmach der Unsichtbarkeit sei häufig schlimmer als der Mangel an finanziellen Mitteln (S. 104).
Kapitel neun setzt sich deshalb näher mit diesem „unsichtbaren Mann“ auseinander. Die Erkenntnis, dass schon Adam Smith in seinem zweiten, weniger bekannten Hauptwerk eine Verbindung zwischen wirtschaftlichem Interesse und Anerkennung deutlich gemacht habe, ist wichtig (S.106). Eine wesentliche Antriebskraft für die Wahl Trumps und den Brexit sei das Gefühl, unsichtbar zu sein (S. 112). Das Problem der Linken besteht für Fukuyama darin, dass sie, statt Solidarität mit breiten Bevölkerungsschichten herzustellen, sich auf immer kleinere Gruppen konzentriere. Das Prinzip der universalen Anerkennung sei zu einer speziellen Anerkennung einzelner Gruppen mutiert (S. 115). Ein wichtiger Inhalt des zehnten Kapitels („Die Demokratisierung der Würde“) ist die Ablösung von Religion durch Psychologie und Psychotherapie.
Im Kapitel „Von Identität zu Identitäten“ wird das Phänomen der Political Correctness in das Werk eingeführt, wobei letztlich deutlich wird, dass die Entdeckung immer neuer Gruppenidentitäten nicht allein das Privileg der Linken ist (Interessanterweise geht Fukuyama hier auch auf den öffentlichen Umgang mit den Kölner Sylvesterereignissen 2016 ein – ob dies auch im amerikanischen Original der Fall war?). Es gelte, größere und einheitlichere nationale Identitäten zu definieren, die die Mannigfaltigkeit liberaler demokratischer Gesellschaften berücksichtigen (S. 151).
Das Problem dessen, was geschieht, wenn es an einer klaren nationalen Identität mangelt, wird sogleich zu Beginn des nächsten Kapitels („Wir, das Volk“) am Beispiel von Libyen aufgezeigt. Wichtig ist hier die Feststellung, die „abschließende Funktion der nationalen Identität“ sei es, „liberale Demokratien überhaupt erst zu ermöglichen“ (S. 158). Die Unerlässlichkeit der Nationalstaaten auch für die Demokratie ist Thema dieses Kapitels. „Geschichten vom Volkscharakter“ werden im dreizehnten Kapitel erzählt, wobei hier wichtig die Feststellung ist, dass Nationen keine biologischen Gebilde sind, sondern soziale Konstrukte (S. 169). „Das gegenwärtige Schicksal der Vereinigten Staaten – und das jeder anderen kulturell vielfältigen Demokratie, die überleben will“ – müsse es sein, eine Bekenntnisnation zu werden. Eine Bekenntnisnation sei allerdings eine notwendige, doch keine hinreichende Voraussetzung für den Erfolg (S. 191).
„Was tun?“ gibt einige Hinweise zur Lösung des Problems. Danach sollte etwa die EU eine einheitliche Staatsbürgerschaft schaffen und selbst demokratischer werden. Die Mitgliedstaaten sollten ihre Staatsangehörigkeitsrechte am jus Ius soli ausrichten, die doppelte Staatsbürgerschaft lehnt Fukuyama ab. Deutschland benötige zur Integration etwa der Türken so etwas wie eine Leitkultur nach dem Modell Bassam Tibis. Die Mehrsprachigkeit im öffentlichen Schulwesen lehnt der Autor ab, ebenso ein Ausländerwahlrecht. Das nationale Gemeinschaftsgefühl kann nach Einschätzung von Fukuyama durch einen allgemeinen Pflichtdienst gestärkt werden, der Engagement und Opfer fordert.
Italien und Griechenland sollten mehr finanzielle Mittel und auch Kompetenzen zur Regulierung des Einwandererstroms erhalten.
Die beiden letzten Sätze des Bandes lauten wie folgt: „Identität kann zur Spaltung, aber auch zur Einigung benutzt werden. Letztlich wird diese Erkenntnis das Heilmittel für die populistische Politik der Gegenwart sein.“
Der Rezensent hat weder an den beschriebenen Beobachtungen, noch an den daraus abgeleiteten Lösungsvorschlägen etwas auszusetzen. Vielleicht brauchen wir gerade in Deutschland und Europa Zurufe von einem japanisch-stämmigen Amerikaner aus Kalifornien, um als demokratische Entitäten dem Auseinanderdriften erfolgreich begegnen zu können.
Fraglich ist allerdings, ob die von den jeweiligen Verfassungen umhegten demokratischen Institutionen zur Selbstheilung in der Lage sind. Zweifel bleiben hier bestehen.
Francis Fukuyama, Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet. Hoffmann und Campe, Hamburg 2019, 236 S., 22 Euro