Hans Michael Heinig und Frank Schorkopf lassen auch Nicht-Göttinger auf das Grundgesetz blicken
Matthias Wiemers
Es sind in diesem Jahr bekanntlich mehrere Bücher anlässlich des 70-jährigen Jubiläums des Grundgesetzes erschienen. An anderer Stelle in diesem Medium wurde darauf hingewiesen, dass das GG in diesem Jahr vielleicht ein wenig hinter seine Vorgängerverfassung zurücktritt, weil diese nun 100 Jahre alt geworden ist. Aber dies war offenbar noch kein Grund für einige Wissenschaftler, nunmehr auf eigene aktuelle Betrachtungen zum Verfassungsjubiläum zu verzichten. (Klaus Stern hat sich in Band V seines „Staatsrechts“ den Brauch, anlässlich Verfassungsjubiläen auf die Republik zu blicken, zunutze gemacht, um die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik zu erzählen (dort § 135). Die Göttinger Staatsrechtslehrer (ich bleibe bei diesem überkommenen Begriff) Hans Michael Heinig und Frank Schorkopf, 1971 und 1970 geboren und damit noch in der „alten“ Bundesrepublik aufgewachsen, haben eine Reihe von Kollegen wie auch Vertreter von Nachbardisziplinen aufgefordert, zu Einzelfragen Stellung zu nehmen, die in einem im Frühjahr im Göttinger Verlag Vandenhoeck und Ruprecht erschienenen Band versammelt sind. Nachfolgend blicke ich auf einige Schlaglichter dieses Kompendiums.
Udo Di Fabio, Bonn, liefert den Einführungsbeitrag u. d. T. „Bonn ist nicht Weimar. Zweiter Aufbruch in die Kultur der Demokratie“ und geht darin auch auf das Wort von der Kanzlerdemokratie ein. Das Grundgesetz als Entscheidung für die Kanzlerdemokratie zu lesen, könne gut vertreten werden (S. 19). Hier nehme ich mit, doch noch einmal das Buch des Schweizers Fritz René Allemann von 1956 „Bonn ist nicht Weimar“ zu lesen, auf das Di Fabio ausdrücklich hinweist (S. 21 f.).
Originell ist der Beitrag „Adlerfederlesen“ von FAZ-Redakteur Patrick Bahners, Köln, über die „Staatssymbolik der Bundesrepublik“. Hier finden wir nicht nur Hinwiese zur Entstehung des Adlers als Staatssymbol, sondern etwa auch zur Frage, wie der Staat mit der Verunglimpfung von Staatssymbolen (§ 90a StGB) umgeht.
Manfred Baldus, Erfurt, setzt sich sodann mit der Menschenwürdegarantie auseinander , indem er den Weg beschreibt von „Erst antitotalitäre Grundnorm, nun rätselhafte Supernorm“ und anschließend nachweist, dass aufgrund der Rechtsprechung des BVerfG inzwischen ein Normverständnis herrschend geworden sei, das mit zahlreichen Inkonsistenzen behaftet sei und zu einem erheblichen Defizit an juristischer Rationalität geführt habe (S. 56). Baldus plädiert im Ergebnis dafür, das Verständnis der Würdenorm auch in Zukunft wieder auf seinen Gehalt im Sinne eines „antitotalitären Grundkonsenses“ zu beschränken (S. 63). Lesenswert auch der Beitrag von Jannis Lennartz, Berlin, zum Thema „Eine Grammatik der Freiheit? Zur gesellschaftspolitischen Dimension der Grundrechtsdogmatik“, dessen wichtigstes Stichwort m. E. die Kritik an der „Entgrenzung“ der Grundrechtsdogmatik darstellt.
Eine Einzelfrage des GG betrachtend, aber nicht weniger wichtig, ist der Beitrag von Matthias Jestaedt, Freiburg, zu „Gedöns im Grundgesetz.“ Der Autor, der bereits als Privatdozent Art. 6 im Bonner Kommentar bearbeitet hat, liefert hier u. a. eine schöne Zusammenfassung der Rechtsprechung des BVerfG zum Eherecht und appelliert letztlich an den Verfassungsgesetzgeber, verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Ehebegriff wieder in Einklang zu bringen (S. 92).
Maximilian Steinbeis, Jurist und Verfassungsblogger aus Berlin, handelt von der Meinungsfreiheit und von Öffentlichkeit und Privatisierung. Letztlich plädiert er für die Verpflichtung privater Medien wie den so genannten sozialen Medien, auf Regeln der Auseinandersetzung – und nimmt hierzu das BVerfG in einem Fraport-Beschluss in Bezug (109). Hier könnte man von einer Übertragung der Rechtsprechung zum Straßen- und Wegerecht auf die Kommunikationsgrundrechte sprechen: Verkehrssicherungspflicht bei tatsächlich öffentlichen Wegen und Plätzen. Dem wäre zuzustimmen. Uwe Volkmann, Frankfurt, referiert zur „Ordnung religiös-weltanschaulicher Freiheit“. Der Politikwissenschaftler Frank Decker, Bonn, gibt einen aktuellen Überblick über „Die Rolle der politischen Parteien und ihre Regulierung“, und Julian Krüper, Bochum, handelt von „Wahlrechtsgeschichte(n) unter dem Grundgesetz“. Individuelle und institutionelle Aspekte“. Aus seinem Beitrag seien die abschließenden Sätze zitiert, weil sie die Zustimmung des Rezensenten finden: „Es scheint indes an der Zeit, die konzeptionelle Abstinenz im Organisationsverfassungsrecht auszugeben, auch wenn schnelle Lösungen nicht zu erwarten sind. Soll das Wahlrecht als vornehmste Ausformung des Demokratieprinzips dauerhaft seine Funktion als Gelingensbedingung der Demokratie behalten, müssen nach seiner subjektiv-rechtlichen Optimierung künftig seine objektiv-rechtlichen Dimensionen der Herrschaftsermöglichung eingehender bearbeitet und entfaltet werden.“ Man mag hinzufügen, dass anderenfalls wohl von einem Organversagen des BVerfG gesprochen werden müsste, das durch das unheilvolle Wirken Gerhard Leibholz´ zwar den „Parteienstaat“ befördert hat, aber bei der Problematik der Überhangmandate bislang leider ein Totalausfall ist, wenn es darum geht, die fehlende Selbstregulierung von Berufspolitikern in den Parlamenten zu ersetzen.
Der Herausgeber Schorkopf setzt sich sodann mit dem Kanzlerdemokratie auseinander und wird von Florian Meinel, Würzburg, gefolgt, der mit seinem Beitrag über „Die Verfassungstheorie des Grundgesetzes und die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik. Eine Bemerkung zu ihrem Verhältnis am Beispiel des parlamentarischen Regierungssystems“ eine wichtige Realanalyse des bundesdeutschen Verwaltungsstaats liefert.
Angelika Nussberger, Straßburg/Köln, betrachtet „Das Tafelsilber des Verfassungsstaats. Rechtsstaatlichkeit als europäischer Grundwert.“
Im Beitrag von Peter-Michael Huber, München/Karlsruhe, über „Der Rechtsstaat nach 70 Jahren Grundgesetz. Ein gefährdetes Erfolgsmodell“ möchte ich eine Bemerkung am Ende des Beitrags herausgreifen. Unter der Überschrift „Gefährdungen des Rechtsstaats“ und dem Unterabschnitt Deutschland, schreibt Huber: „Zu den hausgemachten Gründen für das schwere Fahrwasser, in dem sich der Rechtsstaat befindet, gehört vor allem die mangelnde politische und inhaltliche Abstimmung in einem politischen System mit fünf Ebenen (EU, Bund, Länder, Kreise und Gemeinden). Sie erschwert einen rechtssicheren Vollzug des geltenden Rechts und erleichtert seine – mitunter politisch gewollte – Unterminierung (z. B. Atomausstieg, Flüchtlingspolitik).“
Und Huber fährt mit einem – angesichts der Erfahrungen im frühen 20. Jahrhundert und dem GG als Reaktion hierauf – nicht weniger bedeutsamen Punkt fort: „Die gesellschaftliche Marginalisierung der Juristen und ihre Verdrängung aus den Vorstandsetagen der Unternehmen, der steuer- und wirtschaftsberatenden Berufe und zunehmend auch der Verwaltung macht es heute schwerer als früher, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung personalwirtschaftlich zu umhegen, wie dies Artikel 33 vorsieht. Das Interesse der Öffentlichkeit an diesen Erosionstendenzen hält sich in Grenzen, sie nimmt sie mit gelangweilter Indifferenz zur Kenntnis.“ Im Großen und Ganzen dürfte diese Beschreibung zutreffen.
Aufrüttelnd sind auch die Ausführungen Christian Waldhoffs, Berlin, zum „Föderalismus“, wo er schon im Untertitel seines Beitrags den „prekären Status“ der Bundesländer als Problem sieht und im Text u. a. zutreffend feststellt, oftmals fehle es schlicht am „Willen zur Autonomie“ (S. 233) und u. a. das verfassungspolitische Märchen von der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse dahingehend kritisiert, dass aus tatsächlichem Verhalten oder politischem Wollen eine Rechtspflicht gemacht wird (S. 235). Zutreffend werden die Länder (auch) als personalpolitisches Reservoir für die Bundespolitik qualifiziert (S. 236) und am Ende „die jüngsten Verfassungsänderung(sversuche)“ als weitere Entföderalisierung sorgenvoll betrachtet werden (S. 238).
Heinig behandelt sodann „Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes zwischen Rechtsgrundsatz und Imagination des Politischen“, während sich die Politikwissenschaftlerin Christine Landfried, Hamburg/Berlin, mit „Die Verfassungsgerichtsbarbeit als Potential für demokratisches Regieren“ auseinandersetzt. Die Autorin disqualifiziert sich freilich damit, indem sie ernsthaft eine Frauenquote für das BVerfG diskutiert (S. 259).
Lesenswert ist wiederum der Beitrag von Shu-Perng Hwang aus Taipeh, zum Thema „Das Grundgesetz und das Politische. Eine Perspektive aus Taiwan auf Deutschland“.
Den Schluss bildet ein Beitrag des Altmeisters der Verfassungstheorie und der Verfassungsgeschichte Dieter Grimm, Berlin, zur Frage „Wie sähe ein neues Grundgesetz aus?“ Hieraus lässt sich hervorheben die Feststellung, zu den veränderungsbedürftigen Teilen des Grundgesetzes gehöre die Regelung der Verfassungsänderung (S. 292), weil das Bewusstsein, dass Politiker bei Verfassungsänderungen in anderer Eigenschaft tätig werden als bei anderen Gesetzen, ginge verloren. Grimm spricht sich für die Einführung von Volksbegehren, nicht für Volksentscheide aus (S. 299). Am Schluss, nachdem er zahlreiche Fehlentwicklungen aufgezeigt hat, verweigert sich Grimm ausdrücklich der ihm gestellten Aufgabe, zu zeigen, wie ein neues Grundgesetz heute aussähe. Es fehle sowohl der triftige Grund wie auch die zündende Idee für eine neue Verfassung. (S. 300). Dem kann man leider nichts entgegenhalten.
Vielleicht eins noch ganz allgemein: Die Georgia Augusta zu Göttingen ist ein Ort, der natürlich nicht im Zentrum der politischen Geschehnisse steht (nicht umsonst gibt es vermutlich in der heutigen Landeshauptstadt Hannover, dessen Landesuniversität Göttingen über Jahrhunderte gewesen ist, eine eigene juristische Fakultät), aber umso mehr scheint er geeignet, jenseits des Hauptstadttrubels über eine Verfassung nachzudenken, die zu kritisieren lange Zeit politisch nicht korrekt war (Stichwort: „Verfassungspatriotismus“), deren schwindende Bedeutung aber für jedermann offensichtlich ist. Mag der Leser auch nicht alle Positionen des Bandes teilen, so macht dieser doch deutlich, wie es auch um die verfasste Gemeinschaft der Bundesrepublik aktuell bestellt ist.
Hans Michael Heinig/ Frank Schorkopf, 70 Jahre Grundgesetz. In welcher Verfassung ist die Bundesrepublik?, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019, 310 S., 25 Euro (ISBN 978-3-525-31078-6)