Thomas Claer empfiehlt Spezial: Vor 30 Jahren starb Hoimar v. Ditfurth. Ein persönlicher Rückblick
Es gibt im menschlichen Leben eine Art intellektuelle Prägungsphase. Was man als Teenager oder höchstens noch mit Anfang bis Mitte 20 mit Begeisterung gelesen hat, das wird man später nie wieder ganz los, selbst wenn man irgendwann beinahe alle Einzelheiten davon vergessen haben sollte. Was nämlich unterschwellig für immer haften bleibt, ist die Wirkung, die das Gelesene damals auf einen gehabt hat.
Ich weiß es noch genau, es war wohl im Herbst 1987. Damals muss ich 15 Jahre alt gewesen sein, denn mein Vater war bereits im Westen. Meine Mutter und ich warteten mit „Ausreiseantrag“ auf die „Familienzusammenführung“, die man uns aber erst knapp zwei Jahre später erlauben sollte. Wir waren abends eingeladen bei der Schwester der Freundin meiner Mutter. Und da lag dieses Buch aus dem Westen, ein Taschenbuch mit futuristischer Illustration. (Und Bücher aus dem Westen waren bei uns im Osten natürlich schon per se interessant, weil sie so schwer zu kriegen waren.) Es trug den geheimnisvollen Titel „Im Anfang war der Wasserstoff“, sein Autor war Hoimar v. Ditfurth. Es handelte von der Entstehung und der Evolution des Lebens auf der Erde. Ich begann sofort zu lesen – und konnte gar nicht mehr aufhören zu lesen. Unsere Gastgeberin freute sich sehr über mein Interesse und bot gleich an, mir das Buch auszuleihen. Später gab sie mir sogar noch ein weiteres Buch dieses Verfassers zur Lektüre. Sein Titel war „Kinder des Weltalls. Der Roman unserer Existenz“. Beide Bücher zusammen bildeten gewissermaßen das allumfassende Buch über unsere Welt, das Alexander v. Humboldt vor gut anderthalb Jahrhunderten immer hatte schreiben wollen, aber nie fertigstellen konnte. Und noch dazu waren die Ditfurth-Bücher so allgemeinverständlich und spannend geschrieben, dass auch ein 15-jähriger Schüler daran so viel Freude haben konnte.
Erst mit Verzögerung wurde mir klar, dass dieser grandiose Buchautor jener Professor und Wissenschaftsjournalist war, der im ZDF in der Sendung „Querschnitte“ regelmäßig die Welt erklärt hatte. (Sehr ähnlich wie heute Prof. Harald Lesch in „Leschs Kosmos.) Doch leider wurde die Sendung „Querschnitte“ zu jener Zeit, Ende der Achtzigerjahre, gar nicht mehr ausgestrahlt. In jüngeren Jahren hatte ich nur ein oder zwei Folgen von ihr zu sehen bekommen, die mich regelrecht elektrisiert hatten. Mehr erlaubten mir meine strengen Eltern wegen der (relativ) späten Anfangszeiten leider nicht. Ich musste ja, egal wie energisch ich protestierte, immer rechtzeitig ins Bett. Den Nachgeborenen sei noch einmal erklärt: In der damaligen Welt ohne Internet und YouTube (und für uns im Osten auch ohne Videorecorder) war eine einmal verpasste Fernsehsendung endgültig und unwiderbringlich versäumt.
Doch wie es so ist, wenn man etwas heiß Begehrtes nicht bekommen kann: Das Verlangen danach wächst immer weiter. Als einige Jahre später mein Philosophie-Lehrer auf dem Gymnasium in Bremen uns erklärte, dass man „ein erotisches Verhältnis zu Büchern“ bekommen könne, war ich vermutlich der einzige, der genau zu verstehen glaubte, wovon er sprach. Denn damals, noch im Osten, hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht als weitere Hoimar v. Ditfurth-Bücher. Und ich bekam sie, nach langem Warten, obwohl ihre Einführung in die DDR streng verboten war. Als mein Vater in Bremen von meinem Wunsch erfahren hatte, besorgte er die Bücher und gab sie nach und nach Bekannten, die in den Osten reisten, für mich mit, die sie durch den Zoll schmuggelten. Und so las ich dann „Der Geist fiel nicht vom Himmel. Die Evolution unseres Bewusstseins“ über die Schichten des menschlichen Gehirns, das verglichen mit den beiden vorigen Büchern allerdings etwas zäh war. Noch weitaus spannender für mich war dann aber „Wir sind nicht nur von dieser Welt. Über Naturwissenschaft, Religion und die Zukunft des Menschen“. Mit diesem Buch erwachte erst so richtig mein Interesse an Philosophie. Was dort über Erkenntnistheorie, Immanuel Kant und das ominöse „Ding an sich“ stand, sog ich auf wie ein Schwamm und schockierte damit anschließend meine Mitmenschen, denen ich davon erzählte und die mich augenscheinlich für bekloppt hielten. So lernte ich also schon in jungen Jahren, was mein Philosophielehrer in Bremen uns später ganz ausdrücklich ans Herz legte: Wir sollten bitte niemals versuchen, mit unseren Mitmenschen über „solche Themen“ zu reden. Das sei wirklich Zeitverschwendung, denn gewöhnliche Menschen hätten einfach keinen Sinn für so etwas…
Und schließlich bekam und las ich dann auch noch Hoimar v. Ditfurths „So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen. Es ist soweit“ aus dem Jahr 1985 über die ökologische Krise. Es ist wohl nicht übertrieben, wenn ich sage, dass dieses Buch mich geprägt hat wie kaum ein anderes. Wir fahren, wenn wir nicht ganz schnell umsteuern, unseren Planeten vor die Wand. So hieß es dort sinngemäß – vor 34 Jahren! Und dies mit ausführlicher und unabweisbarer Begründung. Was Hoimar v. Ditfurth heute wohl zu Greta Thunberg und Fridays for Future sagen würde? So wurde ich also ganz maßgeblich durch dieses Buch zum überzeugten Anhänger der Umweltbewegung und der Grünen, was mir in meinem Umfeld den Ruf eines Spinners einbrachte. Was heute als beinahe unbestrittene allgemeine Erkenntnis gilt, war nämlich seinerzeit – da waren sich meine damaligen Gesprächspartner aus Ost und West erstaunlich einig – abstruses, radikales und potentiell gefährliches Gedankengut. Und dennoch konnte ich mit Hoimar v. Ditfurths Tochter Jutta, zu jener Zeit die Galionsfigur des fundamentalistischen Parteiflügels der Grünen, nie etwas anfangen und positionierte mich schon damals, wie ihr Vater, als grüner „Realo“…
Nun wäre es natürlich interessant, noch einmal in die alten Bücher zu gucken, die seit drei Jahrzehnten beinahe unberührt in meinem Regal stehen. Oder auch die alten Fernsehsendungen mit Hoimar v. Ditfurth anzuschauen, die ja dank YouTube längst wieder aus dem Nirvana des Vergessens aufgetaucht sind. Aber seltsamerweise mag ich nicht so recht… Habe ich vielleicht insgeheim Angst davor, dass ich enttäuscht sein könnte, wenn ich sie mit meinen heutigen Augen sehe? Vielleicht würde ich aber auch viel Neues entdecken, was mir damals entgangen ist. Ich verschiebe also vorerst meine erneute Ditfurth-Lektüre und warte damit zumindest noch zwei Jahre – bis zu Hoimar v. Ditfurths 100. Geburtstag.