Sascha Lobo trifft mit seinem neuen Buch ins Herz der öffentlichen Debatten
Matthias Wiemers
Der Mann mit dem roten Irokesen-Haarschnitt fällt auf. Und er findet seit einigen Jahren in der Öffentlichkeit statt, stets mit einer klaren Meinung, aber naturgemäß mit weniger Sprechzeit als man es in einem Buch haben kann. Mag der ein oder andere bislang weggehört haben, wenn der Unangepasste etwa im Fernsehen sprach, so ist dies nicht mehr möglich, wenn man einmal sein neues Buch in der Hand gehalten hat.
In insgesamt zehn Kapiteln werden dem Leser „zehn Lehren aus der Gegenwart“ präsentiert, denen dieser nur dann ausweichen kann, wenn er sich ausnahmsweise einmal in einem Bereich besser auskennt als der Autor. Lobo, der u. a. als Blogger und Digitalisierungsexperte tätig ist, weiß sich nicht nur zu den damit zusammenhängenden Fragen zu äußern – auch wenn man anerkennen muss, dass natürlich die Digitalisierung auch auf andere Bereiche mehr oder weniger stark einwirkt.
Schon in der Einleitung geht Lobo von einer „umfassenden Zeitenwende“ aus, von einem Ende der alleinigen Vorherrschaft des Westens und von den überkommenen Geschlechterverhältnissen.
Wie aktuell das Buch ist, wird auch deutlich aus dem ersten Kapitel zum „Klima“. Darin ist eine wichtige Feststellung hervorzuheben, nämlich dass man gegen Atomstrom demonstrieren kann, ohne seinen Lebensstil ändern zu müssen. Dies insinuiert, dass das angesichts des Klimawandels nicht mehr möglich ist. Hier lernen wir u. a. in einer schönen Gesamtdarstellung die Geschichte des Plastikmülls kennen, und Lobo erklärt den sozialen Mechanismus, wonach das eigentlich lange bekannte Phänomen deswegen jetzt ins allgemeine Bewußtsein geraten ist, weil in den sozialen Medien dasjenige aktuell ist, was gerade eingestellt wurde (S. 41).
Lobo, den man politisch wohl als linksliberal einstufen kann, betreibt aber in der Darstellung der Umweltdebatte keineswegs eine einseitige Darstellung. So weist er etwa darauf hin, zur Wahrheit entstehender Umwelttrends gehöre allerdings auch, dass es Vereine, Verbände und Unternehmen gebe, die vom Umweltschutz leben (S. 43).
Sehr schön ist auch die Entlarvung des „Recycling-Mythos“, wonach die Deutschen deshalb Plastik ohne Reue nutzen, weil sie sich als Recycling-Weltmeister wähnten (S. 47).
„Migration“ entlarvt u. a., dass der Grund für die Migration nach Europa schlicht Europa sei (S. 65). Ob wirklich die Kolonialisierung heute als Zuordnung von Verantwortung für Migration zu den Europäern taugt, mag man bezweifeln; jedenfalls bedenkenswert ist die Feststellung, es sei ein Trugschluss, Migration durch Entwicklungshilfe bekämpfen zu können (S. 78).
Von der Migration ist es gedanklich nicht weit zur „Integration“ (Kap. 3). Das Kapitel beginnt u. a. mit einer Feststellung, wonach die Integration bislang trotz politischer Maßnahmen funktioniert hat, nicht wegen (S. 91). Ein Hauptkritikpunkt ist hier das Arbeitsverbot für Asylbewerber (S. 108). Lobo tritt der These vom Integrationsparadox bei, wonach je mehr Migranten integriert seien, es desto mehr Konflikte gebe (111). Der Gedanke der „Leitkultur“ wird abgelehnt und stattdessen durch „Leitwerte“ ersetzt (S. 125).
Der international zu verzeichnende „Rechtsruck“ ist Thema des vierten Kapitels. Hier werden zahlreiche Phänomene und die Ursachen beschrieben. Den Neoliberalismus aber für den politischen Rechtsruck in vielen Ländern wesentlich verantwortlich zu machen, wie es Lobo tut (S. 148), erscheint als zumindest ungenau, wenn nicht grundfalsch. Die Austeritätspolitik innerhalb der Union wird als falsch dargestellt und am Ende Portugal als Mustereuropäer dargestellt, von dem wir – wie vermutlich auch der Autor – erst seit einigen Monaten wissen, dass der aktuellen sozialistischen Regierung eine erfolgreiche und wirtschaftsfreundliche Politik gelungen ist, ohne dass es dort eine rechtsextreme Partei gibt (S. 177 ff.).
Kapitel 5 setzt sich mit „China“ auseinander, worin wir die wirtschaftliche Entwicklung, aber auch die totale staatliche Kontrolle durch ein social credit System kennenlernen. Zu letzterem schreibt uns Sascha Lobo das Folgende ins westliche Stammbuch: „Die diesbezüglich größte Gefahr für die liberalen Demokratien des 21. Jahrhunderts liegt darin zu glauben, dass unsere politischen Systeme uns davor schützen, mit den Social-Credit-Systemen vergleichbare Strukturen aufzubauen. Das exakte Gegenteil ist der Fall. Und das liegt nicht oder nicht nur an den Digitalkonzernen aus Kalifornien – sondern an der Kontrollwut westlicher Politik“ (S. 209). Für diese Beschreibung gibt es freilich zahlreiche Belege. Wenn, wie jüngst wieder in Hessen, beispielsweise Lebensmittelüberwachungsbehörden versagen, schafft es das zuständige Ministerium, die eigene Verantwortung von sich zu weisen und schafft es anschließend, sich sozusagen „Luft“ zu verschaffen, indem im Ministerium neue Stellen geschaffen werden.
Die „Künstliche Intelligenz“ (KI oder AI) wird im sechsten Kapitel behandelt, das schon deshalb gelesen werden sollte, weil die meisten Menschen, die öffentlich hierüber sprechen, von der Sache keine Ahnung haben. Knapp und eingängig ist die Definition von KI als „lernende Mustererkennung“ (S. 221), was man sich einfach merken sollte.
Hinsichtlich der öffentlich immer wieder diskutierten drohenden Massenarbeitslosigkeit ist Lobo der Ansicht, Künstliche Intelligenz und Robotik müssten primär als neue, aggressive Formen der Automatisierung betrachtet werden (S. 224).
Eine Folge von Digitalisierung und KI stellt Lobo allerdings heraus: Arbeitnehmer sind zunehmend ü b e r q u a l i f i z i e r t (S. 226 ff.). Angesichts von mittlerweile fast 20.000 (!) zugelassener Studiengänge in Deutschland muss man dieses Faktum in der Tat als bedrohlich ansehen.
Nach Auffassung des Autors steuern wir „auf eine digitale Gesellschaft zu, in der selbst Experten ganz alltägliche Zusammenhänge ihrer eigenen Arbeit nicht mehr durchdringen“ (S. 241). Als sinnvolle Reaktion auf diese Entwicklungen macht Lobo die Konzentration auf Bildung und Weiterbildung sowie des Lernens zu lernen aus (S. 252 f.)
Im Kapitel „Gesundheit“ mit dem Untertitel „Digitale Körperlichkeit“ geht es um Gendiagnostik und vor allem um immer mehr zunehmende Gesundheitsdaten und ihre Messbarkeit. Angesichts der neuesten gesundheitspolitischen Debatten ist dies ebenfalls ein sehr aktuelles Thema.
Kapitel acht setzt sich explizit mit Sozialen Medien auseinander und zeigt vor allem, was ein Shitstorm ist und wie digitales Mobbing funktioniert.
In Kapitel neun wird die „Wirtschaft“ behandelt, worin es um „Emotional Economy“ geht. Wer noch an den homo oeconomicus glaubt, kann nach Lektüre dieses Kapitels endgültig von ihm Abschied nehmen, weil er hier den Homo Emotionalis kennenlernt.
Das Abschlusskapitel „Zukunft“ setzt sich mit dem Faktum auseinander, dass junge Leute neue (technische) Entwicklungen häufig besser verstehen als Ältere. Hierin wird schließlich auch die Verbindung zu Greta Thunberg und anderen hergestellt, die augenblicklich im Zeichen von Fridays for Future ihre internetbasierte Organisations- und Kampagnefähigkeit unter Beweis stellen.
Sascha Lobo meint, es spreche vieles dafür, dass das Feedback der Netzwerke eine neue Art zu denken hervorbringe (S. 386), und er stellt am Ende fest, für jedes Kapitel in seinem Buch finde „sich eine junge Gruppierung, die mit unerschütterlichem Engagement und großer Energie für ihre Sache“ kämpfe (S. 389).
Ein paar Gimmicks gibt es via hinten im Buch abgedruckten QR-Code. Den habe ich noch nicht ausprobiert. Man ist ja schließlich schon Jahrgang 1970.
Alles in allem: Der Autor kann wohl als einer der bedeutendsten öffentlichen Intellektuellen der Gegenwart gelten – frei von einer Hochschule oder einem Medienkonzern. Er ist damit das beste Beispiel dafür, was der Einzelne vermag, wenn er sich die neuen Informationstechnologien zunutze zu machen vermag. Umso besser, wenn dabei gelegentlich noch ein gedrucktes Buch herauskommt.
Sascha Lobo, Realitäts-Schock. Zehn Lehren aus der Gegenwart, Kiepenheuer und Witsch, Köln 2019, 390 S., 22 Euro