Langweilige Orte

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

wovon ich jetzt berichten werde, liegt schon mehr als 30 Jahre zurück. Im Herbst 1988 hatte ich, da ich in der DDR wegen unseres laufenden Ausreiseantrags nach Abschluss der 10. Klasse nicht mehr weiter zur Schule gehen durfte, eine Kellnerlehre in einem kleinen Ferienort an der Ostsee begonnen. Nur zur Überbrückung bis zur Genehmigung unserer langersehnten Ausreise in den Westen sollte es dienen, und es dauerte dann auch tatsächlich nur noch ein paar Monate. In unserem Lehrlingswohnheim wohnte damals auch ein Mädchen aus Berlin (aus Ost-Berlin, versteht sich), das sich in dem verschlafenen Ostsee-Kaff so gar nicht wohl fühlte. „Oh mein Gott, wie ist es hier bloß langweilig“, seufzte sie immer wieder. Wohl niemand von uns, außer einem ebenfalls aus Berlin stammenden Mit-Lehrling, verstand so recht, was sie meinte, denn als Kleinstadt- oder Dorfbewohner kannten wir es ja nicht anders. Das ging so lange mit ihrem Schimpfen und Klagen über diesen langweiligen Ort, bis ich ihr verärgert entgegenhielt, es liege doch schließlich nur an ihr selbst, ob sie sich langweile oder nicht. Und dann sagte ich einen richtig bösen Satz zu ihr, allerdings ohne mir wirklich bewusst zu sein, dass ich sie damit beleidigte. Für mich war es nur eine logische Ableitung: „Langeweile ist doch immer ein Zeichen geistiger Armut.“ So sah ich das damals als 16-Jähriger DDR-Junge, der beinahe all seine Inspirationen aus unter der Hand beschafften Büchern aus dem Westen zog (welcher doch eigentlich auch eine Art Sehnsuchtsort für mich gewesen ist). Dass es Orte gibt, die einen in ihrer Eintönigkeit deprimieren können, und andere Orte mit einer ansteckenden Lebendigkeit, das kam mir überhaupt nicht in den Sinn.

Das Mädchen aus Berlin fühlte sich, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte, durch meine Aussage persönlich angegriffen und beschimpfte mich mit Kraftausdrücken, die ich teilweise gar nicht kannte. Erschrocken versuchte ich zurückzurudern und erklärte ihr, das mit der Langeweile als Zeichen geistiger Armut sei doch nur eine allgemeine Feststellung gewesen, und ich habe damit doch nur sagen wollen, dass es auch an ihr liege, etwas Interessantes an diesem Ort zu erleben. Aber sie konnte sich gar nicht wieder beruhigen…

Heute, als vor 17 Jahren zugezogener Berliner, muss ich manchmal an diese Begebenheit aus meiner Jugend denken, denn wie gut kann ich nun verstehen, welch ein Schock es für einen jungen Menschen aus der Großstadt sein musste, plötzlich in ein provinzielles Nest verpflanzt zu werden. Andererseits denke ich aber auch: Langweilige Orte haben immer auch etwas Beruhigendes. Es gibt sicher weitaus größere Unglücke als an einem kleinen, abgelegenen Ort zu leben. Und vielleicht war es für uns damals an der Ostsee ja auch einfach nur die falsche Jahreszeit. Wie interessant und womöglich sogar aufregend wäre es gewesen, als Pubertierender in diesem Ferienort – fernab jeder elterlichen Kontrolle – die Badesaison mit den Touristenmassen, die heißen weißen Sandstrände und die Sonnenuntergänge am Meer zu erleben. Aber all das habe ich verpasst, weil man uns vorher mitgeteilt hat, dass unsere Ausreise… Jaaaa!

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Dez 23rd, 2019 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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