Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
ganz in der Nähe unserer Wohnung steht eine ausrangierte Telefonzelle, die schon seit mindestens zehn Jahren als Bücherbox dient, das heißt jeder kann dort seine nicht mehr benötigten Bücher hineinstellen, und wer mag, darf diese dann mit nach Hause nehmen. Kostet nichts, macht großen Spaß dort zu stöbern, und allen ist geholfen: denen, die ihre Bücher loswerden und in gute Hände abgeben möchten, genauso wie denen, die noch Freude an Büchern haben, dafür aber kein Geld ausgeben wollen. Und dennoch kann so eine Bücherbox irgendwann zum Problem werden…
Am Anfang fühlte ich mich dort noch wie im Schlaraffenland. Zwar hatten wir zu Hause schon eine Menge Bücher stehen (wie es bei „digital immigrants“ eben manchmal noch vorkommt), aber nach fast jedem Besuch der Box schleppte ich weitere in unsere Wohnung. Beinahe immer war etwas Interessantes für mich dabei: literarische Klassiker in Prachtausgaben, Romane aus allen Epochen, faszinierende Sachbücher, opulente Bildbände mit den schönsten Gemälden und Fotos… Was andere Leute nur alles so weggeben, wunderte ich mich. Doch irgendwann waren nicht nur unsere Bücherregale voll, sondern auch auf meinem Schreibtisch und in anderen Ecken unserer Wohnung wuchsen überall die Bücherstapel. Meine Frau, die selbst Literaturwissenschaft studiert hat und Büchern daher grundsätzlich sehr aufgeschlossen gegenübersteht, wollte das irgendwann nicht mehr hinnehmen. So gehe es nicht mehr weiter, meinte sie, denn irgendwann könnten wir in unserer Wohnung sonst vor lauter Büchern nicht mehr treten. Ich musste ihr recht geben. Und wir begannen eine umfassende Inventur unsere Bücher. Nur jene, die einer von uns unbedingt, aber auch wirklich ganz unbedingt!, behalten wollte, blieben in unserer Wohnung. Der Rest wanderte in den Keller. Nach dieser Art Ausmisten gefiel uns unsere nun wieder weitaus ordentlichere Wohnung deutlich besser als zuvor. Doch auch im Keller waren irgendwann so viele Bücher gelandet, dass wir eines Tages unsere Situation von Grund auf überdenken mussten. Grob überschlugen wir, wie viele Bücher wir ungefähr in unserer bisherigen Lebenszeit bereits gelesen hatten und wie lange wir voraussichtlich noch leben und lesen können würden. So kamen wir zu dem Schluss, dass es doch sehr unwahrscheinlich sei, dass wir die aussortierten Bücher im Keller jemals wieder anrühren würden. Also schleppte ich die schweren Pakete dann nach und nach zurück zur Bücherbox. (Alle auf einmal wäre nicht gegangen, weil sie dann die ganze Box verstopft hätten.) Es war für mich ein Gefühl der Befreiung, sie endlich wieder los zu sein, auch wenn wirklich viele schöne Bände dabei waren… Als ich dann nach ein paar Tagen erneut an der Bücherbox vorbeikam, waren jeweils fast alle Bücher, die ich hineingestellt hatte, schon wieder verschwunden. Wie schön, dachte ich, da haben wir immerhin noch jemandem eine Freude gemacht.
Seitdem herrscht bei uns ein strenges Bücherbox-Bücher-Mitnehmverbot, damit unsere Wohnung (und auch unser Keller) niemals wieder so überlaufen wird, wie wir es bereits einmal erlebt haben. Doch ich kann mich einfach nicht daran halten. Einfach zu gerne stöbere ich dort ziellos herum, lese bald in dem einen, bald in dem anderen Buch ein paar Absätze, und am Ende, so sehr ich auch dagegen ankämpfe, findet doch gelegentlich wieder ein Buch den Weg in meinen Rucksack. Schon mehrmals haben wir erneut Bücher aussortiert und die eine oder andere Tasche voll zurück zur Bücherbox gebracht. Doch oft entdeckte ich schon beim Wegbringen der Bücher wieder ein neues, das ich unbedingt mitnehmen wollte, was ich schließlich auch tat. So sehr meine Frau auch mit mir schimpft. Sobald sie selbst den Weg zur Bücherbox findet, wird auch sie immer wieder schwach und nimmt eins mit nach Hause. Das geht dann so lange, bis wir wieder eine große Aussortieraktion starten müssen. Es ist das, was der Philosoph Friedrich Nietzsche „die ewige Wiederkehr des Gleichen“ nannte…
Es hilft wohl alles nichts: Wer so von der vordigitalen Zeit geprägt ist, wie wir es sind, und wer schon regelrechte Jagden nach schwer erhältlichen Büchern hinter sich hat, der kann nun einmal oft nicht widerstehen, wenn ein hübsch gebundener gedruckter Lesestoff zwischen zwei Buchdeckeln förmlich danach schreit, mitgenommen zu werden.
Dein Johannes