Systemtheoretische Herrschaft

Udo Di Fabio leistet einen Beitrag zu „normativen Grundlagen der Gesellschaft“

Matthias Wiemers

Der Bonner Staatsrechtslehrer Udo Di Fabio ist bekanntlich auch Soziologe. Man kann ihn wohl als einen der bedeutendsten Schüler Niklas Luhmanns bezeichnen, der bei der zweiten, sozialwissenschaftlichen Dissertation Di Fabios ein externes Drittgutachten beigesteuert haben soll.
Der Band ist die erste Nummer einer neuen Reihe, die sich den normativen Grundlagen der Gesellschaft widmet und die aus der Arbeit eines seit wenigen Jahren bestehenden interdisziplinären Bonner Forschungskollegs hervorgegangen ist. Im Vorwort warnt der Autor davor, dass die soziokulturellen Grundlagen der Gesellschaft mehr und mehr aus dem Blick gerieten (S. VII). Systemtheoretisch ist schon die Hauptfragestellung, nämlich um die „Konsequenzen einer immer weitergetriebenen Ausdifferenzierung von Funktionssystemen“ (S. V), wobei er das Recht als überlastetes Teilsystem ansieht und es für notwendig hält, dass Juristen „ein sozialwissenschaftlich abgestütztes Bild der Gesellschaft“ gewinnen.
Der Band ist in drei Teile gegliedert, unter denen insgesamt neun durchlaufende Kapitel liegen.
Im Ersten Teil geht es um Politik als Funktionssystem, worin sich erneut das systemtheoretische Denken des Autors manifestiert, und zweigt im Ersten Kapitel zunächst das grundlegende „Problem der Einheit azentrischer Gesellschaftsformationen“. Darin stellt der Autor eine von ihm so bezeichnete „konstruktive Paradoxie“ fest und bezeichnet es als konstitutiv für das angemessene Verständnis von Gesellschaft und Herrschaft im 21. Jahrhundert, den Zusammenhang von funktionaler Ausdifferenzierung von Gesellschaft und die Unmöglichkeit, für die Einheit der Gesellschaft einen Ort zu finden (S. 25 f.). Wird die Einheitsidee als mit dem Mittelalter untergegangen angesehen, so hebt Di Fabio hervor: „Das Neuzeitliche neuzeitlicher polilitischer Herrschaft ist dort stark, wo es die Funktionsbedingungen der anderen Systeme fördert, sie zumindest gewähren lässt und das politische Regelsystem an die Normativität des ebenfalls funktional ausdifferenzierten Rechts bindet.“ (S. 27) Es sei im 21. Jahrhundert keine herkömmliche Staatstheorie mehr möglich und sinnvoll, sondern nur eine „reflektierte Theorie politischer Herrschaft“, die den Staat nicht überschätzt, aber auch nicht unterschätzt. Folgerichtig lehnt der Autor die Ersetzung des Staats durch die Verfassung ab. (S. 27 f.). Diese Erkenntnis wird im nächsten Kapitel über eine Macht- und Herrschaftsanalyse noch unterstrichen, indem Di Fabio meint, womöglich empfehle es sich, „auf das Sujet Staatstheorie ganz zu verzichten, ebenso wie auf staatssubstituierende Abstraktionen, etwa Verfassungstheorie.“ Sie stünden mit ihrer alten Staatsfixierung „einer der funktionalen Gesellschaft angemessenen politischen Herrschaftstheorie als zu eng im Wege“. (S. 33)
Das dritte Kapitel ist „Normativität als Legitimitätsquelle“ gewidmet. Hierin setzt sich Di Fabio u. a. mit der Moral als Legitimitätsressource auseinander. Die „moralische Haltungsbenotung“ sei eine „Machtfrage ersten Ranges“ (S. 73) Das vierte Kapitel ist den „großen strukturellen Kopplungen“ gewidmet, ist also Systemtheorie in Reinkultur. Hierin finden wir aber auch eine angedeutete kritische Frage an die Systemtheorie Luhmanns: „Es muss im Blick auf die Evolution von Gesellschaften als offen gelten, ob die scheinbar unaufhaltsame lineare Entwicklung operativ geschlossener Funktionssysteme zu immer mehr Ausdifferenzierung und immer höherer Komplexität ad infinitum fortsetzbar ist.“
Im zweiten Teil des Bandes geht es um „normative Grundlagen der Gesellschaft zwischen Funktion und Interaktion“ also um eine Institutionenanalyse. Er beginnt mit dem fünften Kapitel über „die gesellschaftstheoretische Basis einer normativen Institutionenanalyse“.
Alles in allem war es zu erwarten, dass Luhmann in diesem Band hinsichtlich der expliziten und impliziten Zitate eine Hauptrolle spielen würde. Die bedeutendste „Nebenrolle“ spielt in diesem Sinne eindeutig: Carl Schmitt, dessen Begriff des Politischen Di Fabio ganz nebenbei im ersten Teil als „unterkomplex“ identifiziert (S. 125 ff., 127). Aber auch im zweiten Teil tritt Schmitt noch gelegentlich auf. Hellsichtig zeigt Di Fabio nämlich auf, dass Schmitt „neuzeitlichen Institutionen nicht analytisch“ nachspüre, sondern sie instrumentell dekomponiere, „sich insofern eigentlich bereits postmodern“ betätige. (S. 173)
Di Fabio untersucht in diesem Kapitel etwa die „Funktion von Institutionen in den Disziplinen“ (V.) und stellt hier in Bezug auf die Rechtswissenschaft als früher Disziplin, die von institutionellem Denken geprägt war – der Autor verweist hier auf Martin Wolff und Carl Schmitt – ,fest: „Nach der aktuellen Verbreitung institutioneller Ansätze in der Soziologie und der Wirtschaftswissenschaft kann der sich in der Rechtswissenschaft subkutan haltende Vorwurf des Konservatismus heute als überholt und seinerseits als politisch imprägniert gelten.“ (S. 173)
Das sechste Kapitel behandelt: „Institutionenpolitik: Herrschaft an der Schnittstelle der Wirtschaft zur Gesellschaft“. Hierin finden wir zentral die „Soziale Marktwirtschaft als Institution“ dargestellt. Darin wird der Zusammenhang der sozialen Marktwirtschaft mit einem „dezentralen Korporatismus“ nachgewiesen (S. 198 f.). Derzeit beobachtet Di Fabio einen „mächtigen Sog zur gelenkten Marktwirtschaft“, bevor er speziell die digitale Transformation und die parallel hierzu auftauchende Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen behandelt (III.). Hinsichtlich des bedingungslosen Grundeinkommens warnt Di Fabio: „Die Vorstellung, dass der Staat nur subsidiär in eine dem freien Spiel überlassene Gesellschaft eingreift, würde verdrängt durch eine Alltagserfahrung, dass jedem zuerst ein Existenzanspruch gegenüber der politischen Gemeinschaft zusteht. Eine Folge davon wäre, dass diese Gemeinschaft zur Sicherung dieses Anspruchs einen jede Abwägung überragenden Verschaffungsanspruch im Hinblick auf die Mittel zur Erfüllung dieses Besitzanspruchs besitzen muss.“ (S. 207) Die Frage nach Bargeld als einer Institution wird eindrucksvoll bejaht (IV.).
Der dritte Teil behandelt den „Strukturwandel politischer Herrschaft“. Im siebten Kapitel geht es hierbei zunächst um „Das Gemeinwohl der Weltgesellschaft“, im achten um „Atlantisches Völkerrecht in der Krise“. Während Di Fabio im siebten Kapitel vor allem verbreitete Fehlvorstellungen über das Gemeinwohl zurechtrückt, aber gleichwohl etwa die NGOs als „wichtige Korrektive“ (bei der Gemeinwohlhervorbringung) bezeichnet (S. 233), wird im achten der Wandel des Völkerrechts bis in die Gegenwart nachgezeichnet.
Im knappen Schlusskapitel „Perspektiven“ fasst Di Fabio seine Untersuchung noch einmal in zwei Punkten zusammen: zunächst einer Krise der (weiteren) Ausdifferenzierung der Gesellschaft in immer speziellere Subsysteme (I.) und Überlegungen über „Das Wissen um den Zusammenhalt der freien Gesellschaft“ (II.). Aus beiden Abschnitten seien zwei kurze Zitate gebracht. Zum ersten: „Wer reflexiv informiert über die offene Gesellschaft streitet, muss die Akzeptanz tragender Institutionen wieder stärken. Er wird zugleich mit den sozialtechnischen und dem Grunde nach unentbehrlichen Lenkungsressourcen des politischen Zugriffs auf Geld und Recht weitaus sparsamer umgehen. Der Zusammenhalt einer offenen Gesellschaft sollte jedenfalls besser verstanden werden, weil ohne die reflexive Ebene kein kluges Verhalten, keine überlegte und soziokulturell nachhaltige Steuerung möglich ist.“ (S. 263 f.)
Das in den jeweiligen Institutionen eingelassene Freiheitsprinzip muss wieder stärker thematisiert werden und die vor der normativen Signatur der freien Gesellschaft gerechtfertigte Ordnung muss als Ordnung in ihrer Formalität und inhaltlichen Neutralität dann auch gewollt und durchgesetzt werden, etwa als ein Rechtsstaat, der nicht Teil des politischen Meinungs- und Glaubenskampfes wird, sondern auf strikte Gewaltlosigkeit der Kontrahenten wirkt.“ (S. 267)
Dieser Band erweist sich insgesamt als eine Fundgrube tiefer Einsichten in die Struktur unserer Gesellschaft und ihrer Probleme, namentlich ihres Zusammenhalts. Zu hoffen allerdings, dass die Akteure namentlich des immer weiter auf andere Subsysteme ausgreifenden politischen Systems Di Fabio lesen werden, ist unrealistisch. Mindestens aber uns Juristen bietet Di Fabio zahllose Anstöße zur Selbstvergewisserung. Nutzen wir sie!
Ergänzend muss zudem unterstrichen werden, dass Mohr Siebeck hier akademisches Hoch-Reck zum sensationellen Preis anbietet. Nur examensrelevant dürfte der Stoff leider nicht sein.

Udo Di Fabio, Herrschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, Tübingen 2019, 293 S., 24 Euro (ISBN 978-3-16-157551-8)

Veröffentlicht von on Feb 17th, 2020 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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