Die Rache der Wilmersdorfer Witwen

Tiergarten macht den größten Sprung, Szenekieze rutschen ab, aber Gentrifizierung 2.0 in Geheimtipp-Lagen: Überraschendes und Erwartbares im neuen Wohnmarktreport Berlin

Thomas Claer

Da haben Berlin Hyp und CBRE mal wieder ganze Arbeit geleistet, denn unter all den Mietmarkt- und Immobilienmarkt-Erhebungen über das Wohnen in unserer Hauptstadt nimmt der inzwischen schon traditionsreiche „Wohnmarktreport Berlin“ eine Sonderstellung ein. Nirgendwo sonst lässt sich ein so immenses – frei zugängliches – Zahlenwerk finden, das von den Angebots-Mietpreisen des zurückliegenden Jahres über die durchschnittlichen Wohnungsgrößen bis hin zum mittleren Einkommen pro Haushalt reicht – und all das für jeden der 190 Postleitzahlbezirke dieser Stadt! Auch in diesem Jahr gräbt man sich als thematisch affiner Leser also gespannt durch die 168 Seiten, auf denen es wie immer eine Menge zu entdecken gibt.

Und zunächst einmal ist festzustellen: Die Zeiten rasant steigender Mieten sind wohl erst einmal vorbei. Mietpreisbremse und Berliner Mietendeckel haben ihre Wirkung nicht verfehlt – wenn auch in mancher Hinsicht anders als von ihren Urhebern beabsichtigt. Das Angebot an Bestandswohnungen der Baujahre vor 2014 dünnt aus. Der Mietmarkt verlagert sich offenbar zunehmend in rechtliche Grauzonen, oder die Eigentümer sind es leid und verkaufen an Selbstnutzer. Deren Nachfrage nimmt, wie die anhaltend steigenden Kaufpreise beweisen, weiter zu, was auch daran liegen könnte, dass Wohnungssuchende, die es sich leisten können, regelrecht zum Kaufen gezwungen werden, denn zum Mieten fehlt es infolge der öffentlichen Regulierungen schlicht an Angeboten. Kurzum, für Wohnungssuchende wird es künftig wohl eher noch schwieriger werden…

So ist zwar aus den genannten Gründen bei den gemessenen Mietpreisen von einem reichlich verzerrten Bild auszugehen. Und dennoch fehlt es den neuesten Erhebungen nicht an Aussagekraft, zeigen sie doch einige bemerkenswerte Trends auf: Der Mythos der Szenekieze scheint langsam zu verblassen. Während sich Friedrichshain und Prenzlauer Berg noch halbwegs halten können, geht es mit Nord-Neukölln und insbesondere Kreuzberg – nach jahrelangen rasanten Mietanstiegen – im Stadtteil-Ranking (siehe unten) doch signifikant bergab. Dafür erlebt der gutbürgerliche (zentrale) Westen eine Renaissance. Wilmersdorf springt von Platz 6 auf Platz 4, Tiergarten sogar von Platz 5 auf Platz 2 (den noch vor einem Jahr Kreuzberg innehatte, das nun aber bis auf Platz 6 durchgereicht wird). Einzig der fulminante Aufwärtstrend im neu-alternativen Bezirk Wedding, der jetzt nur noch knapp hinter dem großbürgerlichen Zehlendorf liegt, ist voll intakt.

Charlottenburg verharrt gut behauptet auf Platz 7 in Lauerstellung, profitiert dabei aber auch von einem neuartigen Trend in seinem Nordosten: Die noch vor wenigen Jahren als langweilig geschmähte Gegend um den Mierendorff-Platz (wo die Einkommensstruktur noch immer unterdurchschnittlich ist) hat nunmehr den Sprung auf Platz 22 der Kieze mit dem stärksten Mietpreis-Anstieg der letzten 11 Jahre geschafft – und das weitgehend ohne den sonst typischerweise preistreibenden Zuzug von Künstlern und Alternativen. Vielmehr erlebte diese Gegend zuletzt eine Ansiedlung von kleinen Start-Up-Büros in großer Zahl, die sich in den z.T. seit Jahren leer stehenden Ladenlokalen einquartierten. Ihnen folgte dann die entsprechende Gastronomie – eine Art Gentrifizierung 2.0 also…

Nun bleibt freilich abzuwarten, wie sich die Corona-Krise auf den Berliner Miet- und Kaufimmobilienmarkt auswirken wird. Wird sie angesichts von wirtschaftlicher Rezession und zunehmender Arbeitslosigkeit zu einer allgemeinen Abkühlung führen? Oder wird sich womöglich wiederholen, was schon in den Jahren nach der Finanzkrise zu beobachten war: Dass nämlich Deutschland schneller und besser als andere aus der Talsohle herauskommt und es dadurch erneut scharenweise junge Leute aus Süd- und Osteuropa in seine Hauptstadt zieht, deren Bevölkerungswachstum sich zuletzt deutlich abgeschwächt hat? Wie auch immer, es bleibt spannend auf Deutschlands „heißestem Immobilienmarkt“.

 

Wohnkosten in Berliner Bezirken (Angebotskaltmiete pro qm) gem. Wohnmarktreport 2019 (2008) nach Alt-Bezirken

1. Mitte (Alt) 15,47 (9,54) +62,2% alternativ/repräsentativ
2. Tiergarten 13,47 (6,33) +112,8% gemischt/lebendig
3. Friedrichshain 13,28 (6,60) +101,2% alternativ/lebendig
4. Wilmersdorf 13,11 (8,06) +62,7% großbürgerlich/bürgerlich
5. Prenzlauer Berg 13,04 (7,32) +78,1% alternativ/neubürgerlich
6. Kreuzberg 12,96 (6,37) +103,5% alternativ/lebendig
7. Charlottenburg 12,37 (7,24) +70,9% großbürgerlich/lebendig
8. Schöneberg 12,07 (7,24) +66,7% bürgerlich/lebendig
9. Zehlendorf 11,54 (7,94) +45,3% großbürgerlich/bürgerlich
10. Wedding 11,37 (5,26) +116,2% neualternativ/proletarisch
11. Neukölln 10,52 (5,23) +101,1% alternativ/proletarisch
12. Steglitz 10,42 (6,45) +61,6% bürgerlich/kleinbürgerlich
13. Treptow 10,31 (5,53) +86,4% proletarisch/lebendig
14. Pankow 10,30 (6,28) +64,0% bürgerlich/lebendig
15. Köpenick 9,86 (6,14) +60,6% bürgerlich/proletarisch
16. Tempelhof 9,62 (5,82) +65,3% kleinbürgerlich/bürgerlich
17. Lichtenberg 9,60 (5,50) +74,5% proletarisch/kleinbürgerl.
18. Weißensee 9,51 (5,50) +72,9% bürgerlich
19. Reinickendorf 9,25 (5,76) +60,6% kleinbürgerlich/bürgerlich
20. Spandau 8,81 (5,43) +62,2% kleinbürgerlich/lebendig
22. Hellersdorf 8,65 (5,30) +63,2% proletarisch/gemischt
21. Hohenschönhausen 8,23 (5,96) +38,1% proletarisch/gemischt
23. Marzahn 7,74 (4,85) +59,6% proletarisch/gemischt

Quelle: Wohnmarktreport Berlin 2020 / eigene Berechnungen

 

Top 30 der Postleitzahlbezirke nach Höhe der Angebotskaltmiete pro qm 2019 (2008)

1. 10557 Moabit Südost / Hauptbahnhof / Bellevue (Tiergarten) 16,35 (6,50) +151,5%
2. 10785 Potsdamer Platz / Lützowstr. (Tiergarten) 16,32 (7,80) +109,2%
3. 10179 Jannowitzbrücke (Mitte) 16,00 (7,40) +116,2%
4. 10115 Chausseestraße (Mitte) 15,60 (8,40) +85,7%
5. 10178 Hackescher Markt/ Alexanderplatz (Mitte) 15,52 (10,30) +50,7%
6. 10963 Kreuzberg-West / Möckernbrücke (Kreuzberg) 15,23 (6,70) +127,3%
7. 10117 Unter den Linden (Mitte) 15,18 (12,60) +20,5%
8. 10119 Rosenthaler Platz (Mitte) 15,06 (9,00) +67,3%
9. 10623 Savignyplatz (Charlottenburg) 15,09 (9,00) +67,7%

10. 10719 Ludwigkirchplatz/ Kurfürstendamm (Wilmersdorf) 15,00 (9,70) +54,6 %
11. 10629 Sybelstraße/ Kurfürstendamm (Charlottenburg) 14,44 (9,00) +60,4%
12. 10707 Olivaer Platz / Kurfürstendamm (Wilmersdorf) 14,42 (8,40) +71,7%
13. 14193 Grunewald (Wilmersdorf) 14,31 (10,60) +35,0%
14. 10435 Kollwitzplatz (Prenzlauer Berg) 14,19 (8,60 ) +65,0%
15. 13355 Humboldthain/ Brunnenviertel (Wedding) 14,06 (5,00) +181,2%
16. 10405 Prenzlauer Allee (Prenzlauer Berg) 14,05 (7,80) +80,1%
17. 10245 Ostkreuz / Boxhagener Platz (Friedrichshain) 14,00 (6,80) +105,9%
18. 14057 Lietzensee (Wilmersdorf) 13,98 (7,60) +83,9%
19. 12047 Maybachufer („Kreuzkölln“)(Neukölln) 13,97 (5,50) +154,0%
20. 10965 Mehringdamm / Bergmannstraße (Kreuzberg) 13,91 (6,30) +120,8%
21. 10711 Halensee (Wilmersdorf) 13,91 (7,70) +80,6%
22. 10829 Schöneberger Insel / Julius-Leber-Brücke (Schöneb.) 13,80 (6,30) +119,0%
23. 10243 Ostbahnhof (Friedrichshain) 13,75 (6,60) +108,3%
24. 10787 Bahnhof Zoo/ Kurfürstenstraße (Tiergarten) 13,71 (8,30) + 65,2%
25. 10437 Helmholtzplatz (Prenzlauer Berg) 13,64 (7,70) +77,1%
26. 14195 Dahlem (Zehlendorf) 13,56 (9,40) +44,3%
27. 10439 Arnimplatz(Prenzlauer Berg) 13,52 (6,50) +108,0%
28. 12049 Hermannstraße West (Reuterkiez)(Neukölln) 13,41 (5,10) +162,9%
29. 10555 Alt-Moabit-West (Tiergarten) 13,39 (5,90) +126,9%
30. 10247 Samariterstraße (Friedrichshain) 13,36 (6,40) +108,8%

Quelle: Wohnmarktreport Berlin 2020 / eigene Berechnungen

 

Gebiete mit dem stärksten Anstieg der Angebotskaltmieten im Elfjahreszeitraum

1. 13355 Humboldthain/ Brunnenviertel (Wedding) 14,06 (5,00) +181,2%
2. 12049 Hermannstraße West /Reuterkiez (Neukölln) 13,41 (5,10) +162,9%
3. 12051 Hermannstraße Süd (Neukölln) 12,75 (5,00) +155,0%
4. 12047 Maybachufer („Kreuzkölln“) (Neukölln) 13,97 (5,50) +154,0%
5. 10557 Moabit SO/ Hauptbahnhof / Bellevue(Tiergart.) 16,35 (6,50) +151,5%
6. 12055 Richardplatz (Neukölln) 12,26 (5,00) +145,2%
7. 12053 Rollbergstraße (Neukölln) 12,01 (4,90) +145,1%
8. 12045 Sonnenallee Nord (Neukölln) 12,53 (5,20) +141,0%
9. 13359 Soldiner Straße (Wedding) 11,00 (4,70) +134,0%
10. 12059 Weigandufer (Neukölln) 11,57 (5,00) +131,4%
11. 10557 Moabit SO / Hauptbahnhof / Bellevue (Tierg.) 15,00 (6,50) +130,7%
12. 10553 Beusselstraße (Moabit/Tiergarten) 11,74 (5,10) +130,2%
13. 13347 Nauener Platz (Wedding) 11,63 (5,10) +128,0%
14. 10963 Kreuzberg-West / Möckernbrücke (Kreuzberg) 15,26 (6,70) +127,8%
15. 10555 Alt-Moabit-West (Tiergarten) 13,39 (5,90) +126,9%
16. 12435 Treptower Park (Treptow) 12,65 (5,70) +121,9%
17. 13351 Rehberge (Wedding) 11,05 (5,00) +121,0%
18. 10965 Mehringdamm / Bergmannstraße (Kreuzberg) 13,91 (6,30) +120,8%
19. 10829 Schöneberger Insel / Julius-Leber-Brücke 13,80 (6,30) +119,0%
20. 10179 Jannowitzbrücke (Mitte) 16,00 (7,40) +116,2%
21. 10551 Birkenstraße (Moabit/Tiergarten) 11,63 (5,40) +115,4%
22. 10589 Mierendorff-Platz (Charlottenburg) 12,90 (6,00) +115,0%
23. 13405 Kurt-Schumacher-Damm (Reinickendorf) 10,00 (4,70) +112,8%
24. 10969 Prinzenstraße (Kreuzberg) 12,76 (6,00) +112,7%
25. 12439 Niederschöneweide (Treptow) 10,81 (5,10) +112,0%
26. 12043 Rathaus Neukölln (Neukölln) 10,55 (5,00) +111,0%
27. 10247 Samariterstraße (Friedrichshain) 13,36 (6,40) +108,8%
28. 13357 Gesundbrunnen (Wedding) 10,64 (5,10) +108,6%
29. 10243 Ostbahnhof (Friedrichshain) 13,75 (6,60) +108,3%
30. 10559 Stephanstraße (Moabit/Tiergarten) 11,18 (5,30) +107,8%

Quelle: Wohnmarktreport Berlin 2020 / eigene Berechnungen

Veröffentlicht von on Jun 1st, 2020 und gespeichert unter DRUM HERUM, SONSTIGES. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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