Von Posen nach Princeton

Robert E. Lerner beschreibt das Leben seines Fachgenossen Ernst Kantorowicz

Matthias Wiemers

Das 20. Jahrhundert brachte bekanntlich die Gelehrtenwelt räumlich durcheinander. Jeder, der etwa die erste Etage der Berliner Humboldt-Universität betritt und die dort verewigten Nobelpreisträger betrachtet, erkennt, dass viele von ihnen aufgrund von Diskriminierungen und Verfolgungen während des „Dritten Reichs“ das Land verlassen mussten. Gleichzeitig ist bekannt, dass gerade Staatsbürger jüdischen Glaubens – ob nun bereits zum Christentum konvertiert oder nicht – im Ersten Weltkrieg als besonders konservativ auftraten und den Staat, der sie erst allmählich als gleichberechtigt anerkannt hatte, etwa gegen linke Revolutionäre verteidigten. Ein solcher national eingestellter Mensch war wohl auch Ernst Kantorowicz (1895-1963), dessen Biographie aus der Feder des amerikanischen Medievisten Robert E. Lerner nun in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Lerners Arbeit, die zuerst 2017 in den USA publiziert wurde, wurde nicht bloß übersetzt, sondern verarbeitet auch neues Material, das erst nach dem erstmaligen Erscheinen des Werks zugänglich wurde (vgl. Vorwort zur deutschen Ausgabe, S. 9). Der Autor hatte als junger Doktorand Anfang der 1960er Jahre seinen Protagonisten noch kurz kennengelernt, und da Kantorowicz bereits seit 1938 in den USA lebte, war es sicherlich nicht fernliegend, dass mit dem Emeritus von der Northwestern University sich ein Amerikaner der Aufgabe des Verfassens einer Biographie dieses bedeutenden Gelehrten des 20. Jahrhunderts annahm. Er konnte sich deshalb nicht nur fachlich in die Wissenschaflerpersönlichkeit Ernst Kantorowiczs hineinversetzen.
Nach einer kurzen Einleitung schildert Lerner zunächst die Jugend seines Protagonisten als Sohn eines jüdischen Spirituosenfabrikanten in der Hauptstadt der preußischen Provinz Posen im Jahre 1895. In der deutsch-polnisch gemischten Stadt bekannten sich die jüdischen Bürger nach der Schilderung Lerners eher zum Deutschtum (S. 27), die Schilderung der Verhältnisse in der erst 1793 zu Preußen gekommenen Stadt geschieht knapp doch prägnant. Die Teilnahme als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg über eine kurze Kriegsgefangenschaft bis hin zur Bekämpfung von Kommunisten in Berlin und München werden ebenfalls anschaulich geschildert, wobei schon in diesen frühen Kapiteln geeignetes Fotomaterial verwendet wird. Lerner berichtet von der Studienzeit in Berlin, München und Heidelberg und verwebt dies zunächst mit den äußeren Ereignissen der Zeit des Kriegsendes und der Revolutionszeit, die er in den Vordergrund stellt und auch mit der Entwicklung persönlicher Beziehungen und Freundschaften, wobei im Kapitel 4 („Heidelberg“) Kantorowiczs Mitgliedschaft im Kreis um den Dichter Stefan George zentraler Gegenstand ist und wo die Dissertation über das Wesen der muslimischen Handwerkerverbände, die mit magna cum laude benotet wird, von Lerner als ein „Jugendwerk“ bezeichnet (S. 80). Die Dissertation passt zwar zu Kantorowicz´ Hauptstudienfach, der Volkswirtschaftslehre, ist aber als wirtschaftshistorisch zu bezeichnen, und Lerner schildert, wie es zur Wahl des Doktorvaters Eberhard Gothein kommt (S. 77). Stefan George und seinem Kreis ist schließlich noch ein eigenes Kapitel (5) gewidmet. Nachdem in den letzten Jahren durch mehrere Biographien der „George-Kreis“ eine gewisse Renaissance im öffentlichen Bewusstsein erfahren hat, bieten die Ausführungen von Lerner zu Ernst Kantorowicz hierzu einige aktuelle Ergänzungen. Zentral ist die Feststellung, zu sagen, Kantorowicz sei George hörig geworden, erscheine als der richtige Ausdruck (S. 96). Kantorowicz Homosexualität wird behandelt, auch die Frage, ob ein sexuelles Verhältnis zu George bestanden habe, was Lerner eher nicht annimmt (S. 111); schließlich kommen die erotischen Beziehungen zu Frauen ebenfalls in der Biographie zur Darstellung, nicht nur die zu einigen Männern.
Es folgt die Schilderung der Entstehung des Buchs, für das Ernst Kantorowicz weltbekannt geworden ist, der Biographie des Stauferkaisers Friedrich II., das 1927 in erster Auflage erschienen ist und 1931 um einen Ergänzungsband erweitert wurde. Lerner stellt dieses Buch auch in den zeitgenössischen Kontext der Weimarer Republik, zentral sein Satz, das Buch sei „geradezu eine Fundgrube antiliberaler Gedanken und Begrifflichkeiten“ (S. 127).
Ohne Habilitation kommt Kantorowicz über eine Dozentur zu einem Ordinariat für mittelalterliche Geschichte im Jahre 1932, wozu Lerner die glücklichen Umstände, die dazu führen, schildert. Das Recht, an der Universität zu lehren, wird Kantorowicz zwar schon bald nach der „Machtergreifung“ der Nazis genommen, aber er bezieht weiter Gehalt und kann eine Gastprofessur in Oxford wahrnehmen und danach noch bis 1938 Deutschland bleiben; Berlin wird sein Domizil. Die Einbindung in intellektuelle Kreise in Oxford, Berlin und später in Berkeley bzw. Princeton schildert Lerner anschaulich, auch den Verlust des endlich erlangten Ordinariats an der Universität von Kalifornien in Berkeley aufgrund der antikommunistischen Kampagnen in der so genannten Mc. Carthy Ära schildert der Autor anschaulich. Dabei wird im Laufe des Buches deutlich, wie Kantorowicz sich politisch allmählich nach links bewegt hat (S. 452). Der Streit entzündet sich an einem eidesartigen antikommunistischen Bekenntnis, das den Mitgliedern der Universität von Berkeley erstmals im Jahre 1949 abverlangt wird und in dem Kantorowicz zu den Verweigerern gehört. Diese Haltung führt zum Verlust des erst kurz zuvor erlangten Ordinariats, was Lerner ausführlich im Kapitel 22 (Die grundlegende Entscheidung“) schildert. Erzählt wird sodann der Wechsel von Kantorowicz an das Institute for advanced Study in Princeton, das nicht zur dortigen Universität gehört.
Ernst Kantorowicz kann als Experte für Hofzeremoniell angesehen werden -sowohl auf kirchlicher wie weltlicher Seite (vgl. S. 294). Dass Kantorowicz sich ausdrücklich mit „politischer Theologie“ auseinandersetzt legte es nahe, mögliche Bezüge zu seinem Zeitgenossen Carl Schmitt zu suchen. Lerner widmet sich dieser Aufgabe in ausgiebiger Weise, und zwar im Zusammenhang mit der Schilderung der Entstehung des zweiten umfangreichen und auch abgeschlossenen Buchprojekts, das Buch „Die zwei Körper des Königs“, das Kantorowicz zwischen 1945 und 1955 verfasst habe (24. Kapitel, S. 409 ff.). Handelt es sich hierbei zwar um ein rechtshistorisches Werk, so scheint es doch, dass sich Kantorowicz mit Schmitt tatsächlich nicht auseinandergesetzt hat, was Lerner nachweist (S. 413). Dennoch stellt der Autor fest: „So stellte sich das fertige Buch geradezu als Anthologie verschiedener Diskussionen zur Transformation christlich-theologischer in politische Formulierungen dar“ (S. 417). Wer Carl Schmitts „Politische Theologie“ von 1922 einmal gelesen hat, erkennt darin ein Hauptthema der Lehren Schmitts wieder, der zudem noch zur selben Zeit in Berlin lebte wie Kantorowicz. Hier wird es vielleicht noch Forschungsbedarf in deutschen Archiven geben.
Deutlich wird die Allgegenwärtigkeit Stefan Georges für Ernst Kantorowicz, wenn man die Schilderungen des Autors in den Kapiteln fünf, 20 und 25 liest. Was Thomas Karlauf in seiner bekannten George-Biographie „die Entdeckung des Charisma“ genannt hat, findet sich am Beispiel seines Anhängers Ernst Kantorowicz eindrucksvoll in den Zeilen Lerners bestätigt.
Eine enge Freundin war die wie Kantorowicz zeitlebens unverheiratete spätere ZEIT-Mitherausgeberin Marion Gräfin Dönhoff, bekannt mit Kantorowicz seit seiner Zeit in Frankfurt am Main, von der der Autor nachweist, dass Kantorowicz ihr im Angesicht seines nahenden Endes im Jahres 1963 schrieb, man hätte vielleicht zu irgend einem Zeitpunkt heiraten sollen (S. 461).
Das Nachwort des Autors endet mit dem Satz: „Eine Biographie war schlicht unumgänglich.“ Man möchte ihm zustimmen und kann die Lektüre nur empfehlen.

Robert E. Lerner
Ernst Kantorowicz: Eine Biographie (Deutsch)
Klett Cotta Verlag 2019
554 Seiten; 48 Euro
ISBN-10: 3608961992

Veröffentlicht von on Jun 8th, 2020 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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