Karl Heinz Bohrers Studie zum literarischen Hass-Effekt „Mit Dolchen sprechen“
Thomas Claer
Hassgefühle können für Menschen ein starker Antrieb sein – und sind es ja auch nur allzu oft… Zwar dürfte zu den Grundvoraussetzungen jedes Gelingens im Leben die Kontrolle über die eigenen negativen Emotionen gehören, doch befinden sich nun einmal die meisten von uns in Lebensumständen, die immer wieder aufs Neue Empörung, Wut und Hass in ihnen erzeugen. Und wenn die Literatur das wahre Leben schildert – und dabei zudem imaginativ noch eins draufsetzt! -, dann greift sie natürlich immer wieder gerne zur Darstellung des zwischenmenschlichen Hasses, sonst würde es ja schließlich auch langweilig…
Nun hat sich also kein Geringerer als Karl Heinz Bohrer, der große alte Mann der deutschen Literaturwissenschaft im selbstgewählten Londoner Exil, in einer fast 500-seitigen Untersuchung dem „literarischen Hass-Effekt“ gewidmet. Und es verwundert nicht, dass er hierzu in allen Epochen fündig geworden ist, vom Zorn des Achilles in der Antike bis zum gegenwärtigen „Hassen, um gehasst zu werden“ bei Michel Houellebecq. Interessant und diskussionswürdig ist bereits die Auswahl der von ihm herangezogenen Literatur. So hätte man beispielsweise die Satire „Gullivers Reisen“ von Jonathan Swift (1667-1745) eher nicht unter Hassliteratur eingeordnet. Aber Bohrer zeigt, dass sie sich, vom richtigen Blickwinkel aus betrachtet, sehr wohl als solche interpretieren lässt. Weniger überraschend ist der Schwerpunkt auf William Shakespeare (1564-1616) und hier vor allem auf Hamlet, dem angry young man par excellence. Dieser sagt „I will speak daggers to her“ und meint damit ausgerechnet seine Mutter, die er verantwortlich für so manches macht, was in seinen Augen „faul“ ist „im Staate Dänemark“… „Mit Dolchen sprechen“ dann aber auch die Helden bei Heinrich v. Kleist (ganz besonders: Michael Kohlhaas), in Richard Wagners „Ring der Nibelungen“ und natürlich bei Bohrers Hausgott Charles Baudelaire (1821-1867) in seinem Versepos „Die Blumen des Bösen“. Unter der Überschrift „Hass im Wohnzimmer“ firmieren die bösen Dramen-Figuren bei August Strindberg (1849-1812). Ja klar, denkt man, den kennt man doch von „Hedda Gabler“ – und merkt nach einigen Seiten, dass man ihn gerade mit Henrik Ibsen (1828-1906) verwechselt hat, den Bohrer aber als längst nicht so radikal wie Strindberg ansieht.
Überhaupt, die Radikalen jeder Couleur haben es Bohrer besonders angetan (die Moderaten findet er künstlerisch eher langweilig): vom bekennenden Rassisten und Antisemiten Louis-Ferdinand Celine („Die Reise ans Ende der Nacht“, 1933) bis hin zur Nobelpreisträgerin und Brachialfeministin Elfriede Jelinek. Auch im Roman „Der Ekel“ und im Drama „Die Fliegen“ des frühen Jean-Paul Sartre (1905-1980) erblickt Bohrer veritable Hass-Dichtungen. Gleiches gilt begreiflicherweise für „Auslöschung“ und „Heldenplatz“ von Thomas Bernhard (1931-1989), aber auch für einige Werke des heutigen Nobelpreisträgers Peter Handke. Nur zwei Nachkriegsliteraten aus Deutschland können in Bohrers Augen mit den Österreichern Bernhard, Handke und Jelinek mithalten: Raimund Goetz und Wolf-Dieter Brinkmann. Am Ende dieser Parade des Hasses steht dann der mittlerweile zum Groß-Autor avancierte Michel Houellebecq mit seinen gesammelte Obszönitäten, die Bohrer genüsslich ausbreitet…
Abschließend noch die einschlägige Selbstbefragung des Rezensenten: Wann in meinem Leben hatte ich die stärksten Hass-Gefühle? Wenn mich nicht alles täuscht, war das während meiner Juristenausbildung…
Karl Heinz Bohrer
Mit Dolchen sprechen. Der literarische Hass-Effekt
Suhrkamp Verlag 2019
493 Seiten; 28 Euro
ISBN: 978-3-518-42881-8