Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
alles hat irgendwann ein Ende. In der ersten Lebenshälfte will man davon aus gutem Grund noch nichts wissen. Man hat ja noch reichlich Zeit. Ist man aber mutmaßlich schon in der zweiten Halbzeit seines Lebens angekommen, dann kann man kaum noch die Augen davor verschließen, dass es eines Tages auch mit einem selbst zu Ende gehen wird. Vielleicht ja erst in drei oder vier Jahrzehnten, wenn man Glück hat. Wenn nicht, kann alles aber auch sehr viel schneller vorbei sein. Die große Lebenskunst besteht nun darin, sich darüber nicht weiter zu beunruhigen, sondern mit heiterer Gelassenheit den Dingen, die da kommen, ins Auge zu sehen. „Philosophieren heißt sterben lernen“, wusste schon der große Montaigne.
Ein großer Trost für mich liegt darin, dass mit dem eigenen Ableben ganz sicher auch all die nervigen Routinen ein Ende finden werden, denen man zeitlebens nicht entkommen kann. Nie mehr aufstehen oder ins Bett gehen müssen, nicht mehr die Blase und den Darm entleeren, nie wieder Zähneputzen und auch keine Zahnarztbesuche mehr. Wer tot ist, braucht sich nicht mehr zu fragen, ob er mit oder ohne Regenschirm auf die Straße gehen sollte, muss keine Antragsformulare mehr ausfüllen oder etwas gegen seine kalten Füße unternehmen.
Es stellt sich aber auch die Frage, was man eigentlich gewonnen hätte, wenn man, nur mal angenommen, unendlich viel Zeit hätte. Wäre das nicht der sichere Weg in eine unendliche Aufschieberitis? Hätte dann überhaupt einmal jemand irgendetwas angefangen? Die Endlichkeit dient also nicht zuletzt der Disziplinierung in jeder Hinsicht.
Das Traurige am Leben ist allerdings auch, dass durch zu viel Wiederholung so ziemlich alles auf der Welt, selbst das Schönste und Interessanteste, mit der Zeit banal wird. Alles, was kein Ende hat, wird irgendwann unerträglich. Und gerade diejenigen, die es im Leben eigentlich gut getroffen haben, die den erdrückenden existenziellen Zwängen wie familiären Zumutungen, mühevoller Erwerbsarbeit oder unausstehlichen Kollegen irgendwann entkommen konnten, spüren dadurch nur umso stärker die dem Dasein an sich wohl unvermeidlich anhaftende Tristesse.
Insofern kommt es ganz entscheidend darauf an, das eigene Leben so zu gestalten, dass der Überdruss möglichst wenig Herrschaft über einen gewinnt. Mäßigung in den Genüssen, immer viel Bewegung sowie reichlich geistige und sinnliche Abwechslung, selbst auf allen Ebenen produktiv sein – die Überlebenstricks sind altbekannt. Mit ihnen sollte auch die zweite Lebenshälfte gelingen können. So lange, wie es eben geht.
Dein Johannes